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Über die Strafbarkeit der Homosexualität in der Sowjetunion: Leserbrief an den Roten Oktober zu dem Artikeln "Die sexuelle Kampffront eröffnen" und "KommunistINNEN lehnen Homosexualität nicht ab - eine Kritik an den reaktionären Positionen der Gruppe Neue Einheit" (RO Nr. 12)

Vorbemerkung:

Vor über einem Jahr schrieb ich der Gruppe Neue Einheit einen Brief, in der ich ihre ultra-reaktionären Positionen zur Homosexualität entlarvt habe (http://red-channel.de/texte/homo.htm). Bis heute habe ich keine Antwort von ihnen erhalten und erwarte auch ehrlich gesagt keine! Aber ich durfte feststellen, dass ich nicht der einzige innerhalb der marxistisch-leninistischen Bewegung bin, der diese Positionen vertritt. Viele Organisationen stimmten mit meinen Ausführungen überein, auch jene, die von Antikommunisten als "stalinistisch" eingestuft werden. Aber bisher hatte nur die Organisation Roter Oktober (www.kpaufbau.de) in ihrem Zentralorgan (Nr. 12), dieses Thema angegriffen und zwar in den Artikeln "Die sexuelle Kampffront eröffnen" (Seite 8) und "KommunistINNEN lehnen Homosexualität nicht ab - eine Kritik an den reaktionären Positionen der Gruppe Neue Einheit" (Seite 16). Diese zwei sehr guten Artikel beziehen klare Positionen und entlarven das kryptofaschistische gerede der Neue Einheit, die, wenn auch klein und unbedeutend, ein negatives Bild auf die marxistisch-leninistische Bewegung wirft! Sollten diese Artikel online sein, werden sie natürlich auf meiner Seite verlinkt.

Bei diesem Leserbrief handelt es sich nicht um eine Kritik an diesen Artikeln, sondern um eine Ergänzung über mögliche Gründe für die Kriminalisierung der Homosexualität in der Sowjetunion.

Hier nun der Brief:

Hallo Genossen,

heute hatte ich nun die neue Ausgabe von Roter Oktober erhalten. Ich habe auch nun eure Artikel „Die sexuelle Kampffront eröffnen!“ und eure Kritik zu den reaktionären Positionen der Gruppe Neue Einheit gelesen (im Übrigen danke ich euch auch für die Erwähnung meines Briefes und meiner Internetseite). Kritisieren an den Texten habe ich nichts, jedoch könnte man zum Text über die Homosexualität noch einig Ergänzungen machen:

Ihr erwähnt auf Seite 18, weshalb in der Sowjetunion Homosexualität strafbar wurde. Eure möglichen Gründe decken sich mit denen meines Briefes an die Neue Einheit (http://red-channel.de/texte/homo.htm). Da aber seit dem Schreiben des Briefes und heute länger als ein Jahr vergangen ist, kamen auch neue Erkenntnisse, neue Überlegungen hinzu. Bevor ich diese nenne möchte ich nur folgendes erwähnen: Hierbei handelt es sich nicht zwingend um Tatsachen, sondern über Möglichkeiten, Überlegungen und Erfahrungen die ich gemacht habe und mich zu diesem Schluss kommen ließen – es kann aber auch sein dass ich komplett falsch liege, nicht zuletzt weil eine Aufarbeitung in dieser Frage noch nie erfolgt ist.

Kommen wir nun zu meinen Überlegungen:

Wir, also die Genossen vom Roten Oktober und ich, kennen Stalins Linie. Wir wissen er war ein konsequenter Revolutionär und Kommunist, ein Gegner des Rassismus, Imperialismus und der Unterdrückung der Frauen. Wenn er in all diesen Fragen so fortschrittlich dachte, warum ausgerechnet nicht in Fragen der Homosexualität? Mir leuchtet das nicht ein! Natürlich war Stalin nicht unfehlbar, das sollte keiner abstreiten, der Stalin als konsequenten Marxisten-Leninisten verteidigen will. Doch sollte man jegliche Kritik an Stalin skeptisch Gegenüberstehen, vor allem wenn sie aus antikommunistischer Ecke kommt (so wird ja Stalin vorgeworfen er sei Antisemit gewesen, was natürlich kompletter Schwachsinn ist!).

Wir wissen aber, dass vor allem in den 20er und 30er Jahren heftige Klassenkämpfe stattfanden, auch im Bereich der Ideologie, so zum Beispiel in Fragen der Rechts- und Sprachwissenschaften (http://red-channel.de/mlliteratur/sowjetunion/recht.htm und http://red-channel.de/mlliteratur/sowjetunion/sprachwissenschaft.htm ), in der Biologie (http://www.allianceml.com/Lysenko/lysenkotable.html) und nicht zu vergessen den Kampf gegen Trotzkismus und Bucharinismus. Warum sollte es auch nicht, wenn auch keine öffentlich geführten, Kämpfe um die Kriminalisierung der Homosexualität gegeben haben, wo vielleicht Stalin den Kürzeren gezogen hat?

In so einigen Fragen musste Stalin und der marxistisch-leninistische Führungskern, der sich ohnehin schon in der Minderheit befand, den Revisionisten eingeständnisse machen. Das beste Beispiel dazu lieferte der britische Marxist-Leninist Bill Bland in seinem Werk: Stalin – Mythos und Wirklichkeit (http://www.marxistische-bibliothek.de/bland.html) : Es geht um die Frage der Lohnunterschiede:

4. Zu große Unterschiede

Lenin und Stalin haben sich immer wieder öffentlich dafür ausgesprochen, dass, obwohl die Entlohnung von Arbeitern im Sozialismus auf der Quantität und Qualität der geleisteten Arbeit beruhen muss, die Lohnunterschiede rigoros eingedämmt werden sollten. Bis zu den 30iger Jahren wurde dieses Prinzip auch streng eingehalten.

Die Kampagne, von diesem Prinzip abzugehen, begann damit, dass sich eine gewisse Anzahl von Fabrikdirektoren und Gewerkschaftsfunktionären in einer Reihe von Branchen für eine völlige Aufhebung der Lohnunterschiede einsetzte. Im Juni 1931 verurteilte Stalin völlig richtig die Aufhebung der Lohnunterschiede.

Dies nahm etwa ab 1934 die revisionistische Mehrheit in den führenden Parteiorganisationen der KPdSU zum Anlass, nach und nach immer größere Lohnunterschiede einzuführen, wofür sie als Begründung Stalins Verurteilung der Gleichmacherei bei den Löhnen heranzogen.

Das führte schließlich dazu, dass ein staatlicher Angestellter mehr als 40 mal so viel erhielt wie ein Arbeiter. Der von einem Chauffeur gefahrene Wagen dieses staatlichen Funktionärs wurde dann bald als sein Privateigentum betrachtet, mit dem er sich dann mit seiner Familie zusammen am Wochenende zu seiner Datscha fahren ließ. Ein Fabrikdirektor erhielt bald bis zu 30 mal so viel an Gehalt und Zulagen wie ein Arbeiter seiner Fabrik. Und statt für die Ehre, Parteimitglied zu sein, finanzielle Nachteile zu haben wie dies vorher der Fall war, wurde den Mitgliedern der KPdSU jetzt alle möglichen Privilegien eingeräumt wie die Versorgung mit besonderen Läden, die überdurchschnittlich gut mit Personal ausgestattet waren, so dass man sich dort nicht lange anzustellen brauchte und in denen Waren angeboten wurden, die es in anderen Läden nicht gab.

Diese übertriebenen Unterschiede führten für sich genommen nicht dazu, dass der sozialistische Charakter des sozialen Systems zerstört wurde. Jedoch wurden dadurch die Voraussetzungen geschaffen für die Entstehung einer hoch privilegierten Schicht von arbeitenden Menschen eine Schicht, die dann später, nach Stalins Tod, sich mit Begeisterung dem Revisionismus und kapitalistischen Prinzipien zuwandte. Es wurden die Grundlagen geschaffen für das schließliche Wiedererstehen einer ausbeutenden Klasse von Staatskapitalisten.

Wenn Stalin nun aus irgendeinem Grunde seine prinzipielle Haltung geändert haben sollte in dieser Frage, hätte man von ihm erwarten können, dass er das zum Ausdruck brachte. Ich habe jedoch eine solche Erklärung noch nirgendwo entdeckt. Auf der anderen Seite: Wenn er weiterhin dagegen war, aber an eine Mehrheitsentscheidung gefesselt war, dann hätte man von ihm erwarten können, nichts in der Öffentlichkeit dazu zu sagen, sondern seinen Widerstand gegen diesen Kurs innerhalb der Parteiorganisationen deutlich zu machen.

So kam es, dass der 'Persönlichkeitskult' zusammen mit dem demokratischen Zentralismus der Partei dazu führte, dass es nach außen so schien, als ob Stalin die Politik der außerordentlich hohen Lohnunterschiede unterstützen würde, wobei man sich die Tatsache zunutze machte, dass Stalin es gewesen war, der sich ursprünglich gegen die Gleichmacherei bei den Löhnen ausgesprochen hatte.“

Es herrschte nun mal Klassenkampf und es bleibt nun mal auch unausweichlich, dass vor allem ein Staat wie die junge Sowjetunion – der erste Arbeiterstaat der Geschichte – Fehlentwicklungen durchlaufen hat.

Ich habe oben aufgezeigt, dass in Fragen der Lohnunterschiede, Stalin Zugeständnisse machen musste. Wie sah es nun in Fragen der Homosexualität aus? Leider mangelt es da an Dokumenten, doch habe ich auf folgendem Link dieses Dokument gefunden:

http://www.etuxx.com/pdf/Jagoda-Stalin.pdf

Hier wird vom damalige stellvertretende Chef des OGPU Genrich Jagoda ein Gesetzesentwurf zur Strafbarkeit der Homosexualität vorgelegt, nachdem Organe des OGPU in Moskau und Leningrad 130 Menschen verhafteten, denen vorgeworfen wurde, ein „Netz von Salons, Zentren, kriminellen Lokalen, Gruppen und anderer organisierter Formen von Päderasten“ zu gründen, mit der „weiteren Umwandlung dieser Gruppen in direkte Spionagezellen“. Diese Gruppe von Päderasten sollte mit konterrevolutionärer Zielrichtung verschiedene Schichten der Jugend, insbesondere der Arbeiterjugend zersetzen und auch Armee und Flotte befallen.

Bevor ich auf den Inhalt und die historischen Zusammenhänge dieses Gesetzesentwurfes (der am 7. März 1934 in Kraft trat) eingehe, ist folgendes interessant:

Auf diesem Dokument erschien folgende Anmerkung Stalins, die an Kaganowitsch gerichtet war: „Man muss diese Schurken exemplarisch bestrafen und entsprechende Direktiven in die Gesetzgebung einbringen“.

Es fällt auf, dass obwohl dieser Link die Dokumente zur Verfügung stellt, diese Anmerkung Stalins nicht zu finden ist. Da frage ich mich warum? Anscheinend will dieser Link, den Lesern verdeutlichen, dass Stalin homophob war in dem sogar schön groß Draufsteht: „Diese Schurken exemplarisch bestrafen“. Verwunderlich nur, das bei den Dokumenten diese Anmerkung nicht zu finden ist. Aber gehen wir mal dennoch davon aus, dass diese Anmerkung tatsächlich stimmen würde, sagt sie aus das Stalin homophob ist? Menschen, die nicht weiter denken und es gerne sehen, Stalin jeden Mist in die Schuhe zu schieben (so auch die Gruppe NE), würde den Kopf nicken. Kritisch denkende Menschen, wie Marxisten-Leninisten, denken da ein bisschen weiter. Ähnlich wie die von der NE gebrauchten Zitate von Engels und Liebknecht, sagt diese Anmerkung nichts über Stalins Ablehnung zur Homosexualität aus. Denn es wird hier nicht deutlich wen oder was Stalin mit „Schurken“ meint? Meint er nur diese Verhafteten Päderasten wegen ihrer konterrevolutionären Pläne, oder die Homosexualität an sich? Es geht aus diesem Beitrag nicht hervor (zumal es sich auch hier nicht um eine wissenschaftliche Analyse handelt)! Zum anderen ist mit nicht bekannt, dass Stalin so eine abwertende Sprache benutzt hat, sowohl wenn man die Klassikertexte ließt, als auch neue Archivmaterialien einsieht (siehe z.B. Getty/Naumov: The Road to Terror: The Self-Destruction of the Bolsheviks, Yale University Press, 1999); und weil hier Stalins Anmerkung nicht abgetippt ist und ich die Zeitschrift, die diesen Artikel gebracht hat nicht finden kann, kann diese Echtheit angezweifelt werden.

Andererseits kennt man auch Stalins schwarzen Humor, der oft – bewusst – misinterpretiert wird (hier sei als Beispiel genannt, dass Stalin vorgeworfen wird, dass er auf der Konferenz von Teheran gesagt hatte, dass zwischen 50 000 und 100 000 deutsche Offiziere liquidiert werden müssen, der US-Diplomat und Dolmetscher Charles Bohlen bestätigt aber, dass diese Bemerkung Stalins nur ein Witz war; siehe: http://red-channel.de/mlliteratur/sowjetunion/berija.htm ).

Gehen wir aber auf den Entwurf genauer ein:

Inhalt des Gesetzesentwurfs ist, ein Gesetz zu beschließen, „mit dem man die Päderasten zur Verantwortung ziehen könnte“. Es geht also bei diesem Entwurf vom 13. Dezember 1933 um eine Bestrafung der Päderasten und nicht um Homosexualität als solche (Päderastie ist ja nur ein Teil der Homosexualität). Dennoch sah das Zentralexekutivkomitee eine Bestrafung jeglicher homosexueller Handlung vor:

„Die Einführung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit für Homosexualität, d.h.,

sexuelle Beziehungen zwischen Männern, auch im Falle einer freiwilligen Verbindung, unabhängig davon, ob einer der Beteiligten die geschlechtliche Reife noch nicht erreicht hat“.

Wie man sehen kann ging der Beschluss des Zentralexekutivkomitees noch weiter, als Jagodas Gesetzesvorschlag. Wie es aber zu diesem Gesetz kam, wird nicht deutlich. Man kann aber folgendes erwähnen: es ist nicht auszuschließen, dass auch in dieser Frage, ähnlich wie bei den Lohnunterschieden, Stalin einen Rückzieher machen musste.

Uns Marxisten-Leninisten ist ja bekannt, dass Jagoda alles andere als ein wahrer Kommunist war. Er war Mitglied des konterrevolutionären Blocks der Rechten und Trotzkisten und wurde als solcher entlarvt und auf dem 3. Moskauer Prozess verurteilt und hingerichtet. Wenn von so einem Feind der Arbeiterklasse ein Gesetzesentwurf stammt, so ist dieser nun mal nicht auf dem Mist Stalins oder anderer Kommunisten in der KPdSU gewachsen. Es ist somit auch nicht auszuschließen, dass Jagoda in der KPdSU und somit auch im Zentralkomitee und Zentralexekutivkomitee seine Anhänger hatte, die dieses Gesetz erzwangen und durchsetzen konnten. Das kann aber letztendlich nur durch eine weitere Öffnung der Archive geklärt werden. Genausowenig kann man sagen, inwieweit es zu einer Verfolgung der Homosexuellen kam. Vorzustellen ist aber, dass vor allem unter dem NKWD-Chef Nikolai Jeschow, selber ein Konterrevolutionär, der schuld an der Verhaftung und Hinrichtung vieler unschuldiger Menschen ist und gegen den Stalin und die Marxisten-Leninisten mit Unterstützung der Werktätigen zwischen 1936 und 1938 einen unerbittlichen Kampf führten, viele Homosexuelle verhaftet wurden.

Michael K.