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Stalin kritisiert Engels

 

 

" ... dann würde der Marxismus zu einer Mumie"

 

 

Aus:

 

'The Stalin-Kaganovich-Correspondence 1931-36', compiled and edited by R. W. Davies, Oleg V. Khlevniuk, E. A. Rees, Liudmilla P. Kosheleva, and Larisa A. Rogovaya, New Haven & London 2003 by Yale University.

 

'Der Briefwechsel zwischen Stalin und Kaganowitsch, 1931-36',

zusammengestellt und herausgegeben von R. W. Davies, Oleg W. Klewnjuk, E. A. Rees, Ludmilla P. Koschelewa und Larissa A. Rogowaja, New Haven/London 2003, S. 375ff, Auszug übersetzt und kommentiert von G.

 

 

 

Stalin an die Mitglieder des Politbüros und Adoratzki, 19. Juli 1934 (S. 375-380, ebd.)

 

 

"An die Mitglieder des Politbüros und den Genossen Adoratzki.

 

Bevor der Artikel von Engels über 'Die Außenpolitik des russischen Zarismus' erscheint, finde ich, muss man ihn mit folgendem einleitenden Kommentar versehen:

 

Genosse Adoratzki schlägt vor, in der nächsten Ausgabe des 'Bolschewik', die dem 20. Jahrestag des imperialistischen Weltkrieges gewidmet ist, Engels bekannten Artikel 'Die Außenpolitik des russischen Zarismus', der zuerst 1890 im Ausland erschien, zu veröffentlichen. Ich würde es als normal bezeichnen, wenn der Vorschlag besagen würde, dass dieser Artikel in den gesammelten Werken von Engels oder in einer historischen Zeitschrift gedruckt werden sollte. Aber der Vorschlag an uns besteht darin, dass er in unserem Kampforgan 'Bolschewik' in einer Ausgabe, die dem 20. Jahrestag des imperialistischen Weltkriegs gewidmet ist, abgedruckt werden soll. Der Artikel wird deshalb anscheinend als richtungsweisend oder zumindest als zutiefst lehrreich für unsere Parteifunktionäre im Hinblick auf die Klärung von Problemen des Imperialismus und der imperialistischen Kriege angesehen. Aber trotz seiner Vorzüge geht aus dem Inhalt des Artikels von Engels hervor, dass er jene Qualitäten nicht besitzt. Darüberhinaus weist er eine ganze Reihe von Mängeln auf, so dass er, falls er ohne Kommentar veröffentlicht würde, den Leser verwirren könnte.

 

Ich würde es deshalb als nicht ratsam betrachten, Engels Artikel in der nächsten Ausgabe des 'Bolschewik' zu veröffentlichen.

 

Aber welches sind nun seine Mängel?

 

1. Wenn er die expansionistische Politik des russischen Zarismus beschreibt und wenn er auf die Abscheulichkeiten dieser Politik eingeht, führt er diese nicht in erster Linie auf das 'Bedürfnis' der russischen feudal-militaristischen Kompradoren zurück, Zugänge zu Meeren und Häfen zu besitzen, um den Außenhandel auszuweiten und strategische Punkte unter ihre Kontrolle zu bringen. Stattdessen legt er mehr Wert auf die Vorstellung, dass die russische Außenpolitik von einer angeblich allmächtigen und sehr raffinierten Bande ausländische Abenteurer bestimmt wurde, die aus irgendeinem Grund überall und bei jeder Unternehmung erfolgreich war, die erstaunlicherweise jedes einzelne Hindernis auf dem Weg zu ihrem abenteuerlichen Ziel aus dem Weg zu räumen in der Lage war, die alle europäischen Herrscher durch ihr verblüffendes Geschick hinters Licht führen konnte und die schließlich erreichte, Russland zum militärisch stärksten Staat zu machen.

 

Diese Art der Abhandlung des Themas durch Engels scheint mehr als unglaublich zu sein, aber es ist leider eine Tatsache.

 

Hier die einschlägigen Passagen aus Engels Artikel:

 

'Außenpolitik', behauptet Engels, 'ist zweifellos das Gebiet, auf dem der Zarismus sehr, sehr stark ist. Die russische Diplomatie stellt eine Art von neuem Jesuitenorden dar, der mächtig genug ist, um notfalls sogar die Launen des Zaren zu überwinden und der, obwohl er weit über den eigenen Bereich hinaus Korruption sät, in seiner Mitte der Korruption Einhalt gebietet. Zuerst wurden hauptsächlich Ausländer für diesen Orden gewonnen: Korsen wie Pozzo di Borgo, Deutsche wie Nesselrode und Ostsee-Deutsche wie Liven. Sein Gründer, Katharina II, war auch Ausländerin.'

 

'Bis auf den heutigen Tag hat nur ein richtiger Russe, nämlich Gortschakow, in diesem Orden einen hohen Posten bekleidet. Sein Nachfolger, von Girs, trägt schon wieder einen ausländischen Nachnamen.'

 

'Es war diese Geheimgesellschaft, deren Mitglieder sich ursprünglich aus den Reihen ausländischer Abenteurer rekrutierten, die den russischen Staat zu seiner gegenwärtigen Machtfülle verhalfen. Mit eiserner Zielstrebigkeit, ihre Ziele beharrlich verfolgend, vor keiner Schlechtigkeit, keinem Verrat und keinem hinterhältigen Mord und keiner Schmeichelei haltmachend - unablässig mit Schmiergeldern arbeitend und sich nie von Siegen hinreißen lassend, nie nach Niederlagen verzagend, über Millionen von Soldatenleichen gehend und zuletzt sogar über die eines Zaren - ist diese Bande nicht nur skrupellos, sondern auch sehr talentiert zu nennen und hat mehr geleistet als alle russischen Armeen, um Russlands Grenzen über den Dnjepr und die Dina, über die Vistula hinweg bis zum Prut, zur Donau und zum Schwarzen Meer hin, vom Don und der Wolga, über den Kaukasus hinaus hin zu den Quellen des Amu Darja und der Syr Daja auszudehnen. Sie hat Russland groß, mächtig und angsteinflössend werden lassen und seinen Weg hin zur Weltherrschaft geebnet.' (siehe Engels oben genannter Artikel).

 

Man ist geneigt zu glauben, dass in der Geschichte Russlands, in der Geschichte seiner Auslandsbeziehungen, die Diplomatie alles war und dass Zaren, Feudalherrn, Kaufleute und andere soziale Gruppen nichts waren oder fast nichts.

 

Man ist geneigt anzunehmen, dass wenn Russlands Außenpolitik von russischen Abenteurern wie Gortschakow und nicht von ausländischen Abenteurern wie Nesselrode oder Girs dominiert worden wäre, dass dann die russische Außenpolitik einen anderen Kurs eingeschlagen hätte.

 

Mal abgesehen davon, dass die expansionistische Politik mit all ihren Abscheulichkeiten und ihrem Schmutz keineswegs nur das Monopol der russischen Zaren war: Jeder weiß, dass expansionistische Politik in gleichem Maße, wenn nicht noch stärker, verbunden war mit den Machenschaften von Königen und Diplomaten eines jeden europäischen Landes, einschließlich derer eines bürgerlich geprägten Kaisers wie Napoleon, der trotz seiner nichtzaristischen Herkunft auf erfolgreiche Weise Intrigen, Betrug, Tücke und Verrat, Schmeichelei, Scheußlichkeiten, Bestechung, Mord und Brandstiftung auf außenpolitischem Gebiet zur Anwendung brachte.

 

Es konnte auch gar nicht anders sein.

 

In seiner Kritik am russischen Zarismus (Engels Artikel ist ein gutes Beispiel für eine engagierte Kritik) hat sich Engels ganz offensichtlich davontragen lassen und einmal davongetragen, vergaß er für eine Weile einige grundlegende Fakten, die ihm sehr wohl bekannt waren.

 

2. Bei der Beschreibung der Lage in Europa und der Analyse der Ursachen und Vorboten für den herannahenden Krieg schreibt Engels:

 

'Die gegenwärtige Lage in Europa wird durch drei Tatsachen definiert: 1) durch Deutschlands Annexion von Elsass-Lothringen; 2) durch den Heißhunger des zaristischen Russlands auf Konstantinopel; 3) durch den Kampf des Proletariats und der Bourgeoisie, der in jedem Lande immer schärfer wird - ein Kampf, für den der umfassende Aufschwung der sozialistischen Bewegung ein Gradmesser ist.'

 

'Die ersten beiden Tatsachen bedingen, dass die gegenwärtige Teilung Europas in zwei Militärlager zustande kam. Die Eroberung von Elsass-Lothringen machte aus Frankreich einen Verbündeten Russlands gegen Deutschland und die zaristische Bedrohung von Kontantinopel verwandelt Österreich und sogar Italien in einen Verbündeten Deutschlands. Beide Lager bereiten sich auf eine Entscheidungsschlacht vor - auf einen Krieg, wie ihn die Welt noch nie gesehen hat - ein Krieg, in dem 10 bis 15 Millionen Soldaten einander gegenüberstehen werden. Nur zwei Faktoren haben bisher verhindert, dass dieser schreckliche Krieg ausbrechen konnte: Erstens die nie vorher dagewesene Entwicklung der Militärtechnologie, bei der jede Art von neu entwickelter Waffe schon wieder von neuen Erfindungen überholt wird, bevor jene in eine einzige Armee überhaupt eingeführt werden kann, und zweitens die absolute Unmöglichkeit, die eigenen Aussichten zu kalkulieren, die absolute Ungewissheit, wer schließlich in diesem gigantischen Kampf siegen wird.'

 

'Diese ganze Gefahr eines Weltkrieges wird von dem Tag an verschwinden, wenn die russischen Verhältnisse eine solche Wende nehmen werden, wenn das russische Volk in der Lage sein wird, die traditionelle, expansionistische Politik ihrer Zaren zu beseitigen und statt ihrer Phantasien von Weltherrschaft seine eigenen Lebensinteressen im Lande verfolgen kann - Interessen, die durch extrem große Gefahren bedroht sind.'

 

' ... Die russische Nationalversammlung, die zumindest die wichtigsten inneren Angelegenheiten regeln will, wird entschieden neue Bestrebungen in Richtung neuer Eroberungen vereiteln müssen.'

 

'Europa bewegt sich in zunehmendem Tempo, wie einen Abhang hinabgleitend, auf den Abgrund eines Weltkriegs zu, der nie gekannte Ausmaße haben und nie gekannte Gewalt mitsichbringen wird. Nur eine Sache kann ihn aufhalten: ein anderes russisches System. Dass dies in den nächsten Jahren passieren muss, steht außer Frage.'

 

' ... An dem Tag, an dem die zaristische Herrschaft, die letzte Bastion der europäischen Reaktion, fällt, an jenem Tag wird in Europa ein völlig anderer Wind anfangen zu wehen'

(ebd.).

 

Man kommt nicht umhin anzumerken, dass in dieser Beschreibung der Lage in Europa und der Reihe der Faktoren, die zum Weltkrieg führten, ein sehr wichtiger Punkt ausgelassen wurde, der später eine entscheidende Rolle gespielt hat: der imperialistische Kampf um Kolonien, Märkte und Rohstoffquellen, der bereits damals von außergewöhnlicher Bedeutung war. Sie lässt die Rolle Englands als einen Faktor in dem bevorstehenden Krieg aus sowie die Konflikte zwischen Deutschland und England - Konflikte, die auch von großer Bedeutung waren und die später eine fast ausschlaggebende Rolle beim Ausbruch und bei der Entwicklung des Weltkrieges wurde.

 

Ich meine, dass diese Auslassung der Hauptmangel des Artikels von Engels ist.

 

Dieser Mangel führt zu anderen Mängeln, von denen die folgenden Erwähnung finden sollen:

 

a) Die Überschätzung der Rolle des zaristischen Russland in seinem Verlangen nach Konstantinopel bei der Ebnung des Weges zum Weltkrieg. Gut, zunächst betrachtet Engels die Annexion von Elsass-Lothringen durch Deutschland als den ausschlagebenden Kriegsfaktor, aber später verweist er diesen Aspekt in den Hintergrund und weist den expanisionistischen Ambitionen des russischen Zarismus die Hauptrolle zu, wenn er behauptet, dass 'diese ganze Gefahr eines Weltkriegs an dem Tag verschwinden wird, wenn die Verhältnisse in Russland eine solche Wendung nehmen werden, bei der das russische Volk in der Lage sein wird, die traditionelle, expanisionistische Politik seiner Zaren zu beseitigen.'

 

Dies ist natürlich eine Übertreibung.

 

b) Eine Überschätzung der Rolle der bürgerlichen Revolution in Russland und die der Rolle der 'Russischen Nationalversammlung' (das bürgerliche Parlament) bei der Verhinderung des herannahenden Krieges. Engels behauptet, dass der Zusammenbruch des russischen Zarismus der einzige Weg ist, um einen Weltkrieg zu verhindern. Dies ist eine offensichtliche Übertreibung. Ein neues bürgerliches System in Russland mit seiner 'Nationalversammlung' hätte den Krieg nicht verhindern können, schon allein deswegen nicht, weil die Hauptursachen des Krieges im Umfeld des imperialistischen Kampfes zwischen den wichtigsten imperialistischen Mächten angesiedelt waren. Der Punkt ist der, dass nach Russlands Niederlage im Krimkrieg (in den 50iger Jahren des 19. Jahrhunderts), die eigenständige Rolle des Zarismus in der europäischen Außenpolitik bedeutend abnahm, und als der imperalistische Krieg näher kam, spielte das zaristische Russland im Wesentlichen die Rolle einer Reserve für die wichtigsten europäischen Mächte.

 

c) Eine Überschätzung der zaristischen Rolle als 'letzte Bastion der europäischen Reaktion' (Engels Worte). Die Tatsache, dass die zaristische Herrschaft in Russland eine mächtige Bastion der europäischen (wie auch der asiatischen) Reaktion darstellte, kann nicht bestritten werden. Aber dass sie die letzte Bastion dieser Reaktion war, ist zu bezweifeln.

 

Es sollte angemerkt werden, dass diese Mängel in Engels Artikel nicht nur 'historischen Stellenwert' besitzen. Sie waren von großer praktischer Bedeutung oder hätten es werden können. Denn wenn der imperialistische Kampf um Kolonien und Einflusssphären als ein Faktor des herannahenden Weltkriegs verkannt wird, wenn der imperialistische Konflikt zwischen England und Deutschland auch verkannt wird, wenn die Annexion Elsass-Lothringens durch Deutschland als Kriegsfaktor im Vergleich zu dem Verlangen Russlands nach Konstantinopel als Kriegsfaktor heruntergespielt wird, wenn schließlich der russische Zarismus das letzte Bollwerk der europäischen Reaktion darstellen soll - ist dann nicht klar, dass, sagen wir, der Krieg des bürgerlichen Deutschland gegen das zaristische Russland nicht ein imperialistischer Krieg ist, nicht ein Raubkrieg, nicht ein Krieg gegen das Volk, sondern ein Befreiungskrieg oder fast ein Befreiungskrieg?

 

Es kann kaum ein Zweifel daran bestehen, dass diese Denkungsart zum Verrat der deutschen Sozialdemokraten am 4. August 1914 beigetragen haben muss, als sie beschlossen, für die Kriegskredite zu stimmen und die Parole ausgaben, das bürgerliche Vaterland gegen das zaristische Russland zu verteidigen, gegen das 'russische Barbarentum' und so weiter.

 

Es kommt deshalb nicht von ungefähr, dass in jenen Teilen des Briefes von Engels an Bebel aus dem Jahre 1891 (ein Jahr, nachdem Engels Artikel veröffentlicht worden war), die von dem bevorstehenden Krieg handelten, Engels ausdrücklich sagt, dass 'ein deutscher Sieg deshalb ein Sieg für die Revolution sein wird' und dass 'falls Russland einen Krieg anfängt, dann vorwärts gegen die Russen und ihre Verbündeten, egal wer sie sind!'

 

Es ist klar, dass diese Einstellung kein Raum lässt für den revolutionären Defätismus, für die leninsche Politik der Verwandlung des imperialistischen Krieges in einen Bürgerkrieg.

 

Das sind die Tatsachen, was die Mängel des Artikels von Engels angeht.

 

Engels, der von der russisch-französischen Allianz, die zu der Zeit (1990-1891) gerade geschlossen wurde, aufgeschreckt war, und die gegen die österreichisch-deutsche Koalition gerichtet war, setzte sich ganz offensichtlich das Ziel, die Außenpolitik des russischen Zarismus in seinem Artikel anzugreifen und ihr jede Glaubwürdigkeit in den Augen der öffentlichen Meinung in Europa zu nehmen, vor allem aber in England. Aber in Verfolgung dieses Zieles, übersah er eine Reihe anderer, höchst wichtiger und sogar ausschlaggebender Aspekte, was zu der Einseitigkeit des Artikels führte.

 

Nach dem gerade Gesagten, ist es da noch wert, Engels Artikel in unserem Kampforgan 'Bolschewik', als eine Quelle der Orientierung oder zumindest als einen äußerst lehrreichen Artikel abzudrucken, da doch eindeutig ist, dass sein Abdruck im 'Bolschewik' gleichbedeutend ist damit, ihm stillschweigend genau diese Art von Empfehlungswürdigkeit zu verleihen?

 

Ich denke nicht, dass er es wert ist."

 

J. Stalin

19. Juli 1934