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William B. Bland:

'Marx und die Theorie der absoluten Verelendung der Arbeiterklasse unter dem

Kapitalismus'

 

Inhalt:

1. Einleitung

2. Marx' erste Lohntheorie

3. Marx' überarbeitete Lohntheorie

4. Die Theorie von der absoluten Verelendung der Arbeiterklasse

5. 'Pauperismus'

6. Geistige Verarmung

7. 'Zunehmendes Elend'

8. Ein revisionisistisches Komplott?

9. Schlussfolgerung



1. Einleitung

'Verelendung' wird als

" ... Prozess der ... Verarmung"

('Oxford English Dictionary', Band 9, Oxford 1989, S. 736).

umschrieben. Der Begriff 'arm' dagegen wird gewöhnlich definiert mit:

" ... im Besitz weniger oder keiner Besitzungen ..., so mittellos sein, dass eine Ab-

hängigkeit von Zuwendungen oder Beihilfen zum Lebensunterhalt besteht."

(Ebenda, Band 12, S. 108).

'Absolute Verelendung' wird in der 'Großen Sowjetenzyklopädie' als

" ... eine Tendenz der Senkung des Lebensstandards des Proletariats"

('Große Sowjetenzyklopädie', Band 1, New York 1973, S. 33).

umschrieben, während 'relative Verelendung' dort als

" ... eine Tendenz nach Senkung des Anteils der Arbeiterklasse am Nationalein-

kommen"

(Ebenda).

definiert ist.

Es besteht kein Zweifel, dass Marx die Theorie der relativen Verelendung der Arbeiterklasse

im Kapitalismus akzeptierte, denn er schrieb:

"Reallöhne ... steigen nie im Verhältnis zur Produktivität der Arbeit an."

(Karl Marx: 'Das Kapital', Band 1, Moskau 1974, S. 566).

Es kommt jedoch vor, dass auch die Theorie der absoluten Verelendung der Arbeiterklasse,

d. h. die Theorie, wonach die Reallöhne der Arbeiterklasse mit der Entwicklung des Kapita-

lismus ständig abnehmen, Marx zugeschrieben wird. Der aus Österreich stammende Philo-

soph Karl Popper (1902-95) zum Beispiel meint:

"Marx' ... Gesetz, wonach das Elend mit der Anhäufung (von Kapital - Verf.) an-

anwächst, hat keinen Bestand. Die Produktionsmittel und die Arbeitsproduktivi-

tät sind seit seinen Lebzeiten in einem Maße angewachsen, das nicht einmal er

für möglich gehalten hätte. Die Kinderarbeit, die Arbeitszeiten, die Qual der Arbeit

und die Unsicherheit der Existenz des Arbeiters haben nicht zugenommen; sie ge-

hen zurück. ... Die Erfahrung zeigt, dass Marx' Vorhersagen falsch waren."

(Karl R. Popper: 'Die offene Gesellschaft und ihre Feinde', Band 2: 'Die Flut der Pro-

phezeihungen: Hegel, Marx und was danach kam', London 1945, S. 174f).

In ähnlicher Weise behauptet der aus England stammende amerikanische Historiker Henry

Parkes (1904-72), dass es für die 'wichtigste Schlussfolgerung aus der ökonomischen

Theorie von Marx', dass nämich

" ... das Elend der Arbeiterklasse immer weiter anwachsen wird, keine Beweise

gibt. Im gesamten Verlauf des Kapitalismus ... hat die Arbeiterklasse ... sich einen

höheren Lebensstandard und einen kürzeren Arbeitstag erobern können. Niedrige

Löhne, lange Arbeitszeiten und Kinderarbeit waren die Kennzeichen des Kapitalis-

mus nicht wie Marx prophezeite in seinen alten Tagen, sondern in seiner Kindheit."

(Henry B. Parkes: 'Marxismus: Ein Nachruf', London 1940, S. 101f).

Der führende Philosoph der Kommunistischen Partei Großbritanniens Maurice Cornforth

(1908-80) schließt sich den Ansichten von Popper und Parkes an:

"Während Marx der Meinung war, dass die Dinge sich immer mehr verschlechtern

würden, haben sie sich im Gegenteil immer weiter verbessert. Die marxistische

Theorie, die die 'absolute Verelendung' voraussagt, steht in keiner Beziehung zu

dem, was sich tatsächlich ereignet hat."

(Maurice Cornforth: 'Die Offene Philosophie und die Offene Gesellschaft: Eine Ant-

wort auf Dr. Karl Poppers Widerlegung des Marxismus', London 1968, S. 205).

Mit dieser Studie soll der Frage nachgegangen werden, ob oder nicht Marx tatsächlich die

Theorie der absoluten Verelendung der Arbeiterklasse im Kapitalismus vertrat.

 

2. Marx' erste Lohntheorie

Die marxsche Lohntheorie hat sich Marx natürlich nicht auf magische Weise offenbart, als

er mal im Schatten eines bengalischen Feigenbaumes am Britischen Museum saß. Sie

wurde nach und nach entwickelt und im Lichte der Erfahrung wieder verändert - ganz in

Übereinstimmung mit dem englischen Sprichwort, das besonders Engels gerne zitierte:

"The proof of the pudding in the eating - die Praxis erbringt den Beweis."

Was so viel bedeutet wie: Der Test für die Gültigkeit einer Hypothese besteht darin, ob

sie sich in der Praxis bewährt oder nicht.

Marx' erste Lohntheorie beruhte auf der 'Theorie vom Existenzminimum', die in den Schriften

der 'klassischen' englischen Ökonomen David Ricardo (1772-1823) und Thomas Maltus

(1766-1834) entwickelt worden war.

Die Theorie vom Existenzminimum,

" ... die von David Ricardo und anderen klassischen Ökonomen entwickelt wurde,

basierte auf der Bevölkerungstheorie von Malthus. Sie behauptete, dass der Markt-

preis der Arbeit sich stets in Richtung auf das Existenzminimums, das für den Le-

bensunterhalt nötig ist, zubewegen würde. Wenn das Angebot an Arbeit steige,

würden die Löhne fallen, was schließlich zu einem Rückgang des Angebots an Ar-

beit führe. Wenn der Lohn über das Existenzminimum ansteigt, würde die Bevöl-

kerung solange anwachsen, bis das größere Angebot an Arbeit die Löhne erneut

nach unten herabdrücken würde."

('New Encyclopaedia Britannica', Band 12, Chicago 1994, S. 447).

In Ricardos Worten:

"Der natürliche Preis der Arbeit ist derjenige Preis, der nötig ist, die Arbeiter in die

Lage zu versetzen, zu existieren und ihre Population zu erhalten, ohne anzuwachsen

oder abzunehmen."

(David Ricardo: 'Über die Prinzipien der Politischen Ökonomie und der Besteuerung',

in: Piero Sraffa, Hrsg. 'Werk und Briefe von David Ricardo', Band 1, Cambridge 1981, S. 93).

"Ricardos Lohntheorie war stark von Malthus beeinflusst. ... Ein Anstieg der Löhne

bewirkt ... einen Rückgang der Kindersterblichkeit, was zu einem größeren Angebot

an Arbeitskräften führt und somit zu einem Rückgang der Löhne. Auf der anderen

Seite führt ein Rückgang der Löhne ... zu einem Anstieg der Kindersterblichkeit,

was zu einem verminderten Angebot an Arbeitskraft führt. ... Diese beiden Bewe-

gungen des Pendels sorgen dafür, dass das Lohnniveau sich ausgleicht, jedoch auf

dem niedrigsten Niveau - ein Niveau, das gerade noch ausreicht, einen Arbeiter mit

einer 'durchschnittlichen' Familie über Wasser zu halten."

(Ernest Mandel: 'Die Herausbildung der ökonomischen Theorien von Karl Marx: 1843

bis zum 'Kapital', hiernach zitiert als: 'Ernest Mandel, 1971', London 1971, S. 140).

Die Theorie des Existenzminimums

" ... besagte nur, dass der Preis der Arbeit vom Auskommen des Arbeiters ab-

hängt. Die Löhne entsprechen der Menge der Waren, die notwendig sind, einen

Arbeiter und seine Familie zu ernähren und mit Kleidung zu versorgen, was den

Auslagen der Gesellschaft gleichkommt, welche 'den Arbeiter in die Lage verset-

zen zu leben und seine Population zu erhalten' (Ricardo)."

(Maurice Dobb: 'Löhne', London 1938, S. 95).

In seinen Vorlesungen von 1880-81 behauptete der englische Historiker Arnold Toynbee,

dass Marx und Engels

" ... Ricardos Lohntheorie übernahmen. ... Sie argumentierten, dass ... aufgrund

dieses Gesetzes und angesichts unserer gegenwärtigen sozialen Einrichtungen

die Löhne nie mehr als gerade ausreichend sein können, um das nackte Exis-

tenzminimum des Arbeiters zu gewährleisten."

(Arnold Toynbee: 'Vorlesungen zur Industriellen Revolution in England', London

1894, S. 130).

Das Lohn'gesetz' von Ricardo und Malthus hat

" ... sie (Marx & Engels - Verf.) zweifellos bei der Ausformulierung ihrer ersten,

fehlerhaften Lohntheorie beeinflusst, welche - wie die Theorie Ricardos und Mal-

thus' - besagt, dass die Löhne dazu neigen, in Richtung des physischen Existenz-

minimums zu sinken und dort zu verharren."

(Ernest Mandel, 1971: Ebenda, S. 142).

Zum Beispiel heißt es in den 'Umrissen einer Kritik der politischen Ökonomie' von Engels

vom Oktober/November 1843, dass

"nur die dringendsten Lebensbedürfnisse, die absolut notwendigen Existenz-

mittel dem Arbeiter zufallen."

(Friedrich Engels: 'Umrisse einer Kritik der politischen Ökonomie', in: Karl Marx:

'Ökonomische und philosophische Manuskripte von 1844', London 1970, S. 223).

In den 'Ökonomischen und philosophischen Manuskripten von 1844', die von Marx zwi-

schen April und August 1844 geschrieben wurden, heißt es:

"Die niedrigste und notwendigste Lohnrate ist jene, die die Existenz des Arbei-

ters für die Dauer seiner Arbeit gewährleistet und die ihm das gibt, was gerade

notwendig ist, um seine Familie und seine Spezies zu erhalten, damit sie nicht

aussterben kann. Die übliche Lohnrate ... ist so niedrig, dass die ... niedrigste

davon ihm eine Existenz gewährt, die der des Viehs ähnelt."

(Karl Marx: 'Arbeitslöhne', in: 'Ökonomische und philosophische Manuskripte

von 1844', London 1970, S. 65).

An dieser Stelle muss angemerkt werden, dass Engels in einer Bemerkung, die er

1885 an die deutsche Ausgabe von 'Elend der Philosophie' schrieb, feststellte:

"Die These, dass der 'natürliche', d. h. normale Preis der Arbeitskraft mit dem

Existenzminimum gleichzusetzen ist, d. h. mit der Entsprechung des Werts

an Existenzmitteln, die absolut unentbehrlich sind für den Lebensunterhalt

sowie für die Wiederherstellung der Arbeitskraft des Arbeiters, wurde zuerst

von mir in den 'Umrissen einer Kritik der politischen Ökonomie' von 1844 und

in 'Die Lage der Arbeiterklasse in England' entwickelt. ... Wie wir hier sehen

werden, hielt Marx zu jener Zeit die These für richtig. Lassalle übernahm sie

von uns beiden. ... Dennoch ist diese These falsch."

(Friedrich Engels: Anmerkung zur deutschen Ausgabe von 'Elend der Philoso-

phie', London 1936, S. 45).

In 'Elend der Philosophie', das von Marx 1846-7 geschrieben wurde, schreibt er:

"Die Arbeit, die selbst eine Ware ist, wird durch die Arbeitszeit bemessen,

um die Ware Arbeitskraft wiederherzustellen. Und was wird benötigt, um diese

Ware Arbeitskraft herzustellen? Gerade so viel Arbeitszeit, um die Dinge her-

zustellen, die unentbehrlich sind für den ständigen Erhalt der Arbeitskraft, d. h.

um den Arbeiter am Leben zu erhalten und in einem Zustand zu belassen,um

seine Art fortzupflanzen. Der natürliche Preis der Arbeit ist kein anderer als

das Existenzminimum."

(Karl Marx: 'Das Elend der Philisophie', London 1936, S. 45f).

In den 'Prinzipien des Kommunismus', dem ersten Entwurf des späteren 'Kommunisti-

schen Manifestes', der von Engels im Oktober 1847 geschrieben wurde, heißt es:

"In einem Regime ... der freien Konkurrenz ... ist der Preis der Arbeit ... gleich

den Kosten der Herstellung der Arbeit. Die Kosten für die Herstellung der Arbeit

jedoch setzen sich aus exakt der Menge an Unterhaltsmitteln zusammen, die

notwendig sind, den Arbeiter in die Lage zu versetzen, seine Arbeit fortzusetzen

und um zu verhindern, dass die Arbeiterklasse aussterben kann. Der Arbeiter

wird deshalb für seine Arbeit nicht mehr erhalten als für diesen Zweck erforder-

lich ist. Das bedeutet, dass der Preis der Arbeit oder der Lohn der niedrigste,

das Minimum sein wird, das erforderlich ist, um den Unterhalt zu bestreiten. ...

Dieses ökonomische Lohngesetz wirkt um so stärker, je höher der Grad, in dem

die große Industrie von allen Produktionszweigen Besitz ergriffen hat."

(Friedrich Engels: 'Prinzipien des Kommunismus', London 1971, S. 6f).

Und Marx in seiner Rede zum Thema 'Freihandel' vom Januar 1848:

"Das Existenzminimum ('Minimallohn' oder 'MIndestlohn' - Übers.) ist der natür-

liche Preis der Arbeit. Und was ist dieser Minimallohn? Gerade so viel, wie be-

nötigt wird, um die Waren herzustellen, die unverzichtbar sind für den Unterhalt

des Arbeiters, um ihn in die Lage zu versetzen, sich mehr schlecht als recht

am Leben zu erhalten und seine Art so gut es geht fortzupflanzen."

(Karl Marx: 'Ansprache zum Thema 'Freihandel', in: 'Elend der Philosophie',

London 1936, S. 205).

In 'Lohnarbeit und Kapital', geschrieben von Marx im Dezember 1847, heißt es:

"Der Preis der Arbeit wird bestimmt durch ... die Arbeitszeit, die notwendig ist,

um diese Ware Arbeitskraft zu produzieren. Was machen dann die Kosten für

die Produktion der Arbeitskraft aus?

Es sind die Kosten, die für den Unterhalt des Arbeiters als Arbeiter und für

seine Entwicklung hin zum Arbeiter entstehen. ... Der Preis seiner Arbeit wird

deswegen bestimmt von dem Preis der notwendigen Unterhaltsmittel.

Die Kosten der Produktion der einfachen Arbeitskraft belaufen sich deshalb

auf die Kosten für den Unterhalt und die Regeneration des Arbeiters. Der Preis

dieser Unterhaltskosten und für diese Wiederherstellung macht den Lohn aus.

Die auf diese Weise bestimmten Löhne werden Minimallöhne genannt. ... Die

Löhne der gesamten Arbeiterklasse gleichen sich selbst aus innerhalb der

Bandbreite dieses Minimums."

(Karl Marx: 'Lohnarbeit und Kapital', in: 'Ausgewählte Werke', Band 1, London

1943, S. 262f).

Im 'Kommunistischen Manifest', das zwischen Dezember 1847 und Januar 1848 gemein-

sam von Marx und Engels verfasst wurde, heißt es:

"Der Durchschnittspreis der Arbeit ist der Minimallohn, d. h. die Menge an Unter-

haltsmittel, die absolut notwendig ist, um dem Arbeiter die bloße Existenz als

Arbeiter zu erhalten. Das, was der Lohnarbeiter durch seine Arbeit erwirbt, reicht

nur aus, um seine nackte Existenz zu verlängern und wiederherzustellen."

(Karl Marx & Friedrich Engels: 'Manifest der Kommunistischen Partei', in: Karl

Marx: 'Ausgewählte Werke', Band 1, London 1943, S. 220f).

Da Marx und Engels also bis mindestens in die späten 50iger Jahre hinein die Lohntheorie

Ricardos übernahmen und unterstützten, wonach die Löhne auf das Existenzminimum

begrenzt seien, konnten sie in dieser Phase keine Theorie der zunehmenden Verelendung

der Arbeiterklasse im Kapitalismus vertreten, da sie zu dieser Zeit der Ansicht waren, dass

sich die Löhne bereits auf einem physischen Existenzminimum befanden, das noch gerade

ausreichte, das Leben zu erhalten und zu reproduzieren.

So dass...

" ... ein 'absoluter Niedergang' von dem Niveau aus, das ein physisches Existenz-

minimum darstellte, nicht mehr vorstellbar war."

(Karl Kühne: 'Ökonomie und Marxismus', Band 1, London 1979, S. 231).

 

3. Marx' überarbeitete Lohntheorie

In den frühen 60iger Jahren des 19. Jahrhunderts waren Marx und Engels zu dem Ergebnis

gekommen, dass die Übernahme der Lohntheorie Ricardos falsch war.

Ein Grund dafür, dass diese Änderung ihrer Position stattfand, bestand darin, dass der deut-

sche Sozialdemokrat Ferdinand Lassalle (1840-1913) die ricardosche Lohntheorie - nicht

ganz zu Unrecht - in das 'Eiserne Lohngesetz' verwandelt hatte:

"Das eiserne ökonomische Gesetz, das die Löhne unter den heutigen Bedingungen

regiert, ... ist dieses: dass der Durchschnittslohn stets auf die für die Existenz und

Fortpflanzung notwendige Basis beschränkt bleibt."

(Ferdinand Lassalle: 'Offenes Antwortschreiben an das Zentralkomitee zur Einberu-

fung eines Allgemeinen Deutschen Arbeiterkongresses nach Leipzig', Zürich 1863, S. 13).

Lassalles 'Eisernes Lohngesetz'

"veranlasste einen großen Teil der deutschen Arbeiterbewegung eine Politik gutzu-

heißen, die die Unmöglichkeit der Verbesserung des Lebensstandards der Arbeiter-

klasse im Kapitalismus als ihren wichtigsten Lehrsatz betrachtete."

(John Strachey: 'Zeitgenössischer Kapitalismus', London 1956, S. 105).

In einem Brief, den Engels einige Jahre später an den führenden deutschen Sozialdemokra-

ten August Bebel (1840-1913) schrieb, bezeichnete er inzwischen die ricardosche Lohn-

theorie, auf der es (das 'Eiserne Lohngesetz' Lassalles - Übers.) basierte, als 'ziemlich

antiquiert':

"Das Lassallsche 'Eiserne Lohngesetz' ... basiert auf einer ziemlich antiquierten

ökonomischen Sichtweise, nämlich darauf, dass der Arbeiter im Durchschnitt nur

den Minimal-Arbeitslohn erhält."

(Friedrich Engels: Brief an August Bebel vom März 1875, in: Karl Marx & Friedrich

Engels: 'Briefwechsel, 1846-1895: Eine Auswahl mit Kommentaren und Anmerkun-

gen', London 1936, S. 235).

Im Juni 1865 stellte Marx seine verbesserte Lohntheorie in einer Rede an den Generalrat

der Ersten Internationale vor. Die berichtigte Theorie beruht immer noch auf der Theorie

des Existenzminimums:

"Der Wert der Arbeitskraft wird bestimmt durch den Wert der Auslagen, die für

die Herstellung, die Entwicklung, die Bewahrung und Fortdauer der Arbeitskraft

benötigt werden."

(Karl Marx: 'Lohn, Preis und Profit', in: 'Ausgewählte Werke', Band 1, London 1943, S. 315).

Die Theorie wurde jetzt jedoch dahingehend abgeändert, dass einige 'besondere Merkmale',

die die Arbeitskraft von allen anderen Waren unterscheidet, aufgenommen wurden:

"'Es gibt einige besondere Merkmale, welche den Wert der Arbeitskraft ... vom

Wert aller anderen Waren unterscheiden."

(Ebenda: S. 332).

Marx' verbesserter Theorie zufolge beziehen sich die 'besonderen Merkmale', die die Ar-

beitskraft von anderen Waren unterscheiden, auf das Vorhandensein eines 'geschicht-

lich-gesellschaftlichen Elements':

"Der Wert der Arbeitskraft wird durch zwei Komponenten gebildet: Die eine ist

bloß physischer Natur, die andere historisch oder gesellschaftlich. Seine äußer-

ste Grenze wird bestimmt durch das physische Element, d. h., um sich zu er-

halten und den Bestand in der Zukunft zu sichern, muss die Arbeiterklasse die

Unterhaltsmittel bekommen, welche für das Leben und die Fortpflanzung abso-

lut unentbehrlich sind. Der Wert dieser unentbehrlichen Bedarfsartikel stellt

deshalb die äußerste (Unter - Üb.)-Grenze des Werts der Arbeitskraft dar."

(Ebenda).

Wegen des geschichtlichen oder sozialen Elements im Wert der Arbeitskraft wird dieser Wert

" ... in jedem Land von dem herkömmlichen Lebensstandard bestimmt. Es

ist nicht die bloße physische Existenz, sondern es ist die Befriedigung be-

stimmter Bedürfnisse, die sich aus der gesellschaftlichen Lage, in der sich

die Menschen befinden und in denen sie aufgewachsen sind, ergibt. ...

Das geschichtliche und soziale Element, welches in den Wert der Arbeit mit

eingeht, kann ausgedehnt oder gering oder ganz und gar ausgelöscht sein,

so dass, was übrigbleibt, nichts als die physische Grenze ist."

(Ebenda, S. 332f).

In der ersten Ausgabe seines 'Kapitals', das im September 1867 herauskam, wieder-

holte Marx die Grundlage seiner überarbeiteten Lohntheorie:

"Der Wert der Arbeitskraft wird bestimmt - wie im Fall jeder anderen Ware -

von der Arbeitszeit, die nötig ist für die Produktion und demgemäß auch für

die Reproduktion dieser besonderen Ware. ... Mit anderen Worten: Der Wert

der Arbeitskraft ist gleich dem Wert der Unterhaltsmittel, die notwendig sind,

um dem Arbeiter den Lebensunterhalt zu garantieren."

(Karl Marx: 'Das Kapital', Band 1, Moskau 1974, S. 167).

Jedoch fügt Marx hinzu, dass die natürlichen Bedürfnisse eines Arbeiters

" ... wie Essen, Kleidung, Heizstoffe und Wohnung je nach den klimatischen

und anderen physikalischen Bedingungen eines Landes verschieden sind.

Auf der anderen Seite ist die Zahl und das Ausmaß der so genannten lebens-

notwendigen Bedürfnisse so wie auch die Art und Weise, sie zu befriedigen,

selbst das Produkt geschichtlicher Entwicklungen und hängen somit in ho-

hem Maße von dem Stand der Zivilisation eines Landes ab; genauer gesagt,

von den Bedingungen und damit von den Gewohnheiten und dem Grad des

Wohlstands, unter denen sich die Klasse der freien Arbeiter herausbildete.

Im Unterschied zu den anderen Waren geht deshalb in die Bestimmung des

Werts der Arbeitskraft ein historisches und moralisches Element mit ein."

(Ebenda: S. 168).

Nun ist es aber so, dass die geschichtliche Entwicklung dieser 'notwendigen Bedürf-

nisse' weiter voranschreitet, so dass mit ihnen zusammen der Wert der Arbeitskraft

ebenfalls zunimmt. Neue Erfindungen tauchen auf - wie der Kühlschrank, das Auto,

das Fernsehen - und entwickeln sich von Luxusgütern für die Reichen zu Artikeln, die

von den Arbeitern bald als lebensnotwendige Gebrauchgegenstände angesehen wer-

den. Marx spricht selbst von einem Anstieg des Preises der Arbeit infolge der Anhäu-

fung von Kapital:

"Ein Anstieg des Preises der Arbeit als Folge der Anhäufung ('Akkumulation' -

Übers.) von Kapital bedeutet in der Tat nichts weiter, als dass die Länge und

das Gewicht der goldenen Kette, die der Lohnarbeiter bereits für sich selbst

geschmiedet hat, ein Nachlassen der Spannung dieser Kette gestatten."

(Ebenda: S. 579f).

Er bedeutet auch

" ... die Teilnahme des Arbeiters an den höheren kulturellen Dingen, ...

das regelmäßige Beziehen einer Zeitung, der Besuch von Kursen, die Er-

ziehung der Kinder, die Entwicklung seiner Vorlieben usw."

(Karl Marx: 'Grundrisse', Harmondsworth 1973, S. 287).

Marx weist in der Tat darauf hin, dass es zu den Widerspüchen der kapitalistischen

Gesellschaft gehört, dass der Kapitalist ein Interesse daran hat, das Einkommen seiner

eigenen Beschäftigten niedrig zu halten, um seinen Profit zu vergrößern, aber nicht da-

ran, die Einkommen der Beschäftigten anderer Kapitalisten niedrig zu halten, da diese

für ihn bloß Konsumenten darstellen, Teil des Marktes. Das heißt, dass er daran inter-

essiert ist,

" ... die Arbeiter mit 'frommen Wünschen' abzuspeisen, aber nur seine eigenen,

weil sie ihm als Arbeiter gegenüberstehen; aber keineswegs die restliche Welt

der Arbeiter, denn diese steht ihm als Konsument gegenüber. Trotz all seiner

'frommen' Reden sucht er deshalb nach Wegen, sie zum Konsum anzuhalten,

sucht er nach Methoden, seine Produkte mit neuen Nettigkeiten zu versehen,

um durch sie und durch ständiges Geklapper neue Bedürfnisse zu wecken."

(..womit Marx das Rühren der Werbetrommel meint - Übers.).

(Ebenda: S. 287).

In Phasen der relativen Vollbeschäftigung

" ... fungieren die Arbeiter ... selbst in hohem Maße als Konsumenten."

(Karl Marx: 'Theorien zum Mehrwert', Teil 3, Moskau 1975, S. 223).

Wie es Maurice Cornforth richtig ausdrückt:

"Die großen technischen Fortschritte, die mit der Anhäufung von Kapital Hand

in Hand gehen, führen dazu, dass alle möglichen Annehmlichkeiten massenhaft

zur Verfügung stehen, was wiederum zur Folge hat, dass der Gebrauch dersel-

ben Teil des materiellen Bedarfs und der Erwartungen der Arbeiter wird. Mit ande-

ren Worten: In Folge des technischen Fortschritts verlangt der Arbeiter für sei-

nen Unterhalt verschiedene Güter und Dienstleistungen, ohne die seine Väter

noch auskamen."

(Maurice Cornforth: Ebenda, S. 206f).

Angesehene Ökonomen sind tatsächlich der Meinung, dass

" ... Marx einen Anstieg bei den Reallöhnen im Laufe der kapitalistischen Ent-

wicklung als selbstverständlich ansah" ...

(Karl Kühne: Ebenda, Band 1, S. 227).

..und dass er

" ... nie abstreitet, dass die Reallöhne im Kapitalismus ansteigen können."

(Mark Blaug: 'Ökonomische Theorie im Rückblick', Homewood, USA, 1962, S. 243).

Hinzukommt, dass die Gewerkschaftsbewegung - die Anwendung des Prinzips der Mono-

polmacht auf den Verkauf der Arbeitskraft - organisierte Arbeiter in die Lage versetzt, ihre

Arbeitskraft zu einem höhren Tarif zu verkaufen als sie dies unter Bedingungen der freien

Konkurrenz unter den Arbeitern tun könnten. Wie Engels im Mai 1881 schrieb:

"Das Gesetz der Löhne ... ist nicht eines, das eine unverrückbare Grenzziehung

vornimmt. In einem bestimmten Rahmen ist es keineswegs ein unerbittliches. Es

gibt zu jeder Zeit (ausgenommen in Zeiten der großen Depression) für jeden Be-

rufsstand eine gewisse Marge, innerhalb derer die Lohnrate im Ergebnis des Kamp-

fes zwischen den beiden streitenden Parteien näher bestimmt werden kann."

(Friedrich Engels: 'Das Lohnsystem', in: Karl Marx & Friedrich Engels: 'Gesammel-

te Werke', Band 24, London 1989, S. 380).


4. Die Theorie von der absoluten Verelendung der Arbeiterklasse

Also: Weder in ihrer ursprünglichen Fassung noch in ihrer überarbeiteten Form stimmt Marx'

Lohntheorie mit der Theorie der absoluten Verelendung der Arbeiterklasse im Kapitalismus

überein.

Von seriösen Autoren, die Marx' Schriften studiert haben, wird im Allgemeinen zugegeben,

dass in ihnen nie von der absoluten Verelendung der Arbeiterklasse die Rede ist:

"Das Wort 'Verelendung' taucht weder in Marx' Schriften auf noch findet es sich in

der klassischen Geschichte der großen Lehren von Gide und Rist (Charles Gide &

Charles Rist: 'Geschichte der ökonomischen Lehren. Von den Physiokraten bis

zur Gegenwart', London 1915' - Verf.) Erwähnung. ... Die so genannte 'Theorie der

Verelendung ist im Zuge der Auslegung seiner Werke Marx untergeschoben wor-

den. Eine nicht unerhebliche Zahl von Forschern ... ist - oft gutgläubig - von der

Existenz einer solchen Theorie ausgegangen. Dies deutet darauf hin, dass sie

Marx recht oberflächlich gelesen haben. ... Marx selbst hat nie von 'Verelendung',

von zunehmender Verarmung oder Niedergang gesprochen. ... Marx hat nie eine

Theorie der zunehmenden Verarmung vertreten."

(Karl Kühne: Ebenda, SS. 197, 226f, 231).

"Die Theorie der absoluten Verelendung findet sich nirgendwo in den Werken von

Marx. ... Der Gedanke, dass der Reallohn der Arbeiter immer stärker zurückgeht,

ist den Schriften von Marx völlig fremd."

(Ernest Mandel: 'Marx' Wirtschaftstheorie', hiernach zitiert als 'Ernest Mandel, 1968',

Band 1, London 1968, S. 150f).

"Marx verneint nirgendwo, dass die Reallöhne im Kapitalismus steigen können. ...

Die Vorstellung, dass er eine Theorie der wachsenden Verarmung der Arbeiter-

klasse vertritt, ist nichts anderes als Vulgärmarxismus."

(Mark Blaug: Ebenda, S. 243).

Wir wir oben gesehen haben, hat Marx tatsächlich die Vorstellung akzeptiert, dass die

Entwicklung des Kapitalismus von einem Anstieg der Löhne begleitet sein kann:

"Die einschlägigen Textstellen belegen unzweideutig, dass Marx einen Anstieg

der Reallöhne im Lauf der kapitalistischen Entwicklung als selbstverständlich

ansah."

(Karl Kühne: Ebenda, S. 227).

Er erkannte an, dass

" ... die Lage der Arbeiterklasse sich infolge von Lohnerhöhungen durch die Ge-

werkschaftsbewegung oder die 'Fabrikgesetzgebung' verbesserte."

(André Piettre: 'Marx et Marxisme', Paris 1957, S. 62).


5. 'Pauperismus'

Mitunter werden Marx' Hinweise auf den 'Pauperismus' mit einer Bezugnahme auf eine

'Verlendung' gleichgesetzt.

Ein 'Pauper' (Armer) ist jedoch

" ... eine Person, die keine Mittel zum Lebensunterhalt besitzt; die von der Mild-

tätigkeit anderer abhängig ist; ein Bettler."

('Oxford English Dictionary', Band 11, Oxford 1989, S. 364).

'Pauperismus' wird dagegen umschrieben als

" ... das Vorhandensein einer Klasse der Armen; von Armen als Gruppe."

(Ebenda).

Marx selbst definierte 'Pauperismus' als

" ... jenen Teil der Arbeiterklasse, der seine Existenzgrundlage eingebüßt hat (den

Verkauf seiner Arbeitskraft) und der von öffentlichen Almosen dahinvegetiert" ..

(Karl Marx: 'Das Kapital', Band 1, Moskau 1974, S. 611).

...wie die Arbeitslosen und jene, die aufgrund ihres Alters oder einer Erwerbsunfähigkeit

nicht mehr imstand sind zu arbeiten:

"Der unterste Bodensatz der relativen Überbevölkerung (Marx spricht hier von

den Arbeitslosen u.a. - Übers.) lebt schließlich in der Sphäre des Pauperismus.

Von den Landstreichern, Kriminellen, Prostituierten, kurz, von den 'gefährlichen'

Gruppen einmal abgesehen, setzt sich diese Schicht aus drei Kategorien zusammen:

Erstens aus solchen, die in der Lage sind zu arbeiten. Man braucht die Statisti-

ken zum englischen Pauperismus nur einmal kurz zu überfliegen, um festzustel-

len, dass die Zahl der Armen mit jeder neuen Krise ansteigt und mit jeder Wie-

derbelebung des Handels zurückgeht.

Zweitens aus Waisen und den Kindern von Armen. Dies sind Anwärter auf die in-

dustrielle Reservearmee. ...

Drittens aus den Entmutigten und Zerlumpten und jenen, die nicht mehr arbeiten

können; ... Leute, die das normale Arbeitsalter überschritten haben; die Opfer

der Industrie, deren Zahl mit der Zahl gefährlicher Maschinen ansteigt, der Gru-

ben, der chemischen Industrie usw.; die Verstümmelten, die Kränkelnden, die

Witwen usw. ... Je größer der gesellschaftliche Reichtum, ... umso größer ist die

industrielle Reservearmee. ... Je umfangreicher schließlich die Schicht der be-

dauernswerten Menschen der Arbeiterklasse und der industriellen Reservearmee,

umso größer ist der offizielle Pauperismus. Dies ist das absolute Gesetz der

kapitalistischen Akkumulation."

(Ebenda, S. 602f).

Wenn also Marx von einem Anstieg des Pauperismus im Zuge der Entwicklung des Ka-

pitalismus spricht, dann meint er nicht die Arbeiterklasse als Ganze, die von der absoluten

Verelendung betroffen ist:

"Das Wort 'Pauperismus' darf nicht mit dem Begriff 'zunehmende Armut' gleich-

gesetzt werden und es ist sogar noch verfehlter, den letzten Begriff auf die Ar-

beiterklasse als Ganze zu beziehen. ... Dies ist eine der schwerwiegendsten

Fehlinterpretationen von Marx. ... Das Wort 'Pauperisation, was so viel bedeu-

tet wie, dass eine Klasse von Unterprivilegierten entsteht, ist mit dem Gedan-

ken eines Rückgangs des Lebensstandards der Arbeiterklasse als Ganzer ver-

wechselt worden."

(Karl Kühne: Ebenda, S. 229).

"'Pauperisation' bezieht sich auf die 'Reservearmee', nicht auf die Arbeiterklasse

als Ganze und es ist eine nachgewiesene Tatsache, dass dort, wo die Marktwirt-

schaft 'frei' geblieben ist, sie jedesmal eine riesige Unterschicht von Armen er-

zeugt hat."

(George Lichtheim: 'Marxismus im modernen Frankreich', New York 1970, S. 146).

Mit anderen Worten:

" ... das, was man bei Marx findet, ist der Gedanke der absoluten Verelendung

nicht der Arbeiter, der Lohnempfänger, sondern eines Teils des Proletariats, den

das kapitalistische System aus dem Produktionsprozess herauswirft: Die Arbeits-

losen, die alten Menschen, die Behinderten und Verkrüppelten, die Kranken usw.

... Diese Einschätzung behält ihre volle Gültigkeit, selbst im 'Wohlfahrtskapitalis-

mus' von heute."

(Ernest Mandel, 1968: Ebenda, S. 152).


6. Geistige Verarmung

Echte Missverständnisse ergeben sich manchmal auch aus Marx' Behauptung, dass die

Entwicklung des Kapitalismus von der geistigen Verelendung oder Entfremdung der arbei-

tenden Menschen begleitet ist.

Die 'Große Sowjet-Enzyklopädie' umschreibt 'Entfremdung' als

" ... einen objektiv vorhandenen gesellschaftlichen Prozess, der antagonisti-

schen Klassengesellschaften innewohnt und der durch die Verwandlung der

menschlichen Arbeit und seiner Ergebnisse in eine unabhängige Kraft gekenn-

zeichnet ist, die dem Individuum feindlich gegenübersteht."

('Große Sowjet-Enzyklopädie', Band 19, New York 1978, S. 2).

In den 'ökonomischen und philosophischen Manuskripten von 1844 schreibt Marx, dass

mit der Entwicklung des Kapitalismus

" ... der Arbeiter umso ärmer wird, je mehr Reichtum er produziert. ... Mit dem

zunehmenden Wert der Dinge geht direkt proportional die Entwertung der Welt

des Menschen einher. ... Der Gegenstand, der von der Arbeit hergestellt wird -

das Arbeitsprodukt - steht ihr als etwas Fremdartiges gegenüber, als eine Macht,

unabhängig vom Produzenten."

(Karl Marx: 'Ökonomische und philosophische Manuskripte von 1844', London

1970, S. 107f).

Statt zu einer Quelle schöpferischer Freude zu werden, wie dies durchaus bei dem Bau-

ern und Handwerker der Fall sein kann, wird die Arbeit zu einer Tyrannei:

"Im Handwerk und in der Manufaktur (d. h. bei der Handarbeit - Verf.) macht

der Arbeitende von einem Werkzeug Gebrauch; in der Fabrik macht die Maschi-

ne von ihm Gebrauch. Dort gehen die Bewegungen des Arbeitsinstruments von

ihm aus; hier sind es die Bewegungen der Maschine, denen er folgen muss.

In der Manufaktur sind die Arbeitenden Teil eines lebendigen Mechanismus;

in der Fabrik haben wir es mit einem leblosen Mechanismus, der vom Arbeiten-

den unabhängig ist, zu tun, welcher zu seinem bloßen lebendigen Anhängsel

wird. ... Während die Fabrik das Nervensystem bis zum Äußersten erschöpft,

macht sie mit dem vielseitigen Muskelspiel Schluss und beschlagnahmt jedes

Atom von Freiheit, sowohl bei der körperlichen als auch bei der geistigen Tätig-

keit. Selbst die Erleichterung der Arbeit wird zu einer Art von Folter, da die Ma-

schine den Arbeiter nicht von der Arbeit, sondern die Arbeit von jeglichem In-

teresse befreit."

(Karl Marx: 'Das Kapital', Band 1, Moskau 1974, S. 398).

"Innerhalb des kapitalistischen Systems gehen alle Methoden zur Anhebung der

gesellschaftlichen Produktivität der Arbeit auf Kosten des einzelnen Arbeiters;

sämtliche Mittel für die Entwicklung der Produktion verwandeln sich in Mittel der

Herrschaft über ... den Produzenten. Sie verstümmeln den Arbeiter und machen

aus ihm das Fragment eines Menschen, degradieren ihn zu einem Anhängsel

der Maschine, zerstören jeden Rest eines Zaubers in seiner Arbeit und verwan-

deln sie in eine verhasste Drangsal. Diese Mittel entfremden ihm die geistigen

Möglichkeiten des Arbeitsprozesses in dem Maße, wie die Wissenschaft darin

als eine unabhängige Macht enthalten ist; sie verschlechtern die Bedingungen,

unter denen er arbeitet und unterwerfen ihn während des Arbeitsprozesses ei-

ner Tyrannei, die ihm wegen ihrer Gemeinheit um so verhasster wird." ...

(Karl Marx: 'Das Kapital', Band 1, Moskau 1974, S. 604).

Was Marx hier zum Ausdruck bringen will ist

" ... die innere psychische Verelendung des Menschen, der von der Maschine

beherrscht wird, statt ihr Herr zu sein und so zu einem 'Anhängsel der Maschine' wird."

(Karl Kühne: Ebenda, S. 228).

Marx stellt eindeutig klar, dass er sich hier auf die geistige Verelendung des Arbeiters

bezieht und nicht auf seine materielle, wenn er schreibt:

"In dem Maße, wie das Kapital akkumuliert (sich vermehrt - Übers.), verschlim-

mert sich das Los des Arbeiters, ganz gleich, ob sein Lohn hoch oder niedrig ist."

(Karl Marx: Ebenda).

Es ist zutreffend, dass Marx in seinen späteren Schriften solche Begriffe wie 'Entfrem-

ung' etc. weniger häufig gebraucht hat als in seinen Frühschriften, was aber nicht daran

lag, dass er die Vorstellungen, die in diesen Begriffen zum Tragen kommen, aufgegeben

hat, was ja aus dem Auszug, den wir oben aus dem Kapital angeführt haben, deutlich wird.

"Marx gab solche Begriffe wie 'Entfremdung', 'Rückkehr des Menschen zu sich

selbst' von dem Moment auf, als er merkte, dass sie von kleinbürgerlichen Au-

toren in ideologisches Geschwätz verwandelt wurden, statt zu einem Hebel, um

die tatsächliche Welt und ihre Umwandlung zu analysieren. ...

(Alfred Schmidt: 'Der Begriff der Natur bei Marx', London 1971, S. 129).

In einer Anmerkung zu diesem Absatz bemerkt Schmidt noch:

"Der Begriff der 'Entfremdung' findet sich noch häufig im 'Kapital' sowie in den

'Theorien zum Mehrwert' und wenn Marx derartige Begriffe im Allgemeinen spä-

ter nicht mehr verwendete, bedeutet dies nicht, dass er die materiellen Bedin-

gungen, die durch sie angedeutet werden, nicht mehr untersucht hat."

(Anmerkung zu: Alfred Schmidt: Ebenda, S. 228).


7. 'Zunehmendes Elend'

Schließlich ergeben sich häufig Missverständnisse aus Marx' Feststellung, dass die

Entwicklung des Kapitalismus von 'zunehmendem Elend' der Arbeiterklasse begleitet

ist. Eine bekannte Stelle aus dem 'Kapital' lautet zum Beispiel:

"Anhäufung von Reichtum an dem einen Pol bedeutet deshalb Anhäufung

von Elend ... am entgegengesetzten."

(Karl Marx: 'Das Kapital', ebenda, S. 604).

'Elend' ist jedoch definiert als

" ... große Sorge oder Verzweiflung; ... äußerste Unzufriedenheit".

('Oxford English Dictionary', Band 9, Oxford 1989, S. 865).

Darüberhinaus bezieht sich Marx in der in diesem Zusammenhang bekanntesten Text-

stelle auf das 'Elend' der 'verarmten' Schichten der Arbeiterklasse, nicht auf das der

Arbeiterklasse insgesamt:

"Zwei bekannte Textstellen im 'Kapital', Band 1, sind ständig fehlinterpretiert

worden. In beiden dieser Passagen spricht Marx von der 'wachsenden Armut'

... sowie über die 'Akkumulation des Elends'. Durch den Zusammenhang wird

jedoch deutlich, dass er sich auf das ... Elend der 'Überschuss-Bevölkerung',

auf die 'Lazarus-Schicht' der Arbeiterklasse bezog, d. h. auf die Arbeitslosen

oder halbbeschäftigten Armen. ...

Der Punkt, um den es hier einfach geht, ist der, dass dieses Kapitel ... sich

überhaupt nicht mit den Bewegungen des Reallohnes beschäftigt. ... Dies geht

eindeutig aus der fraglichen Textstelle hervor, wo Marx feststellt, dass in dem

Maße, wie das Kapital akkumuliert, die Lage der Arbeiter sich verschlechtert,

egal, ob ihre Löhne nun hoch oder niedrig sind."

(Ernest Mandel: Einführung zu: Karl Marx: 'Das Kapital. Eine Analyse der Poli-

tischen Ökonomie', Band 1, Harmondsworth 1976, S. 71).

Mit anderen Worten: Was die Arbeiterklasse als Ganze betrifft, haben wir es hier wiede-

rum nicht mit der materiellen Verelendung zu tun, sondern mit der geistigen, mit Ent-

fremdung.

In diesem Zusammenhang muss an Engels Kritik an der Verwendung des Wortes 'Elend'

in dem Entwurf des Erfurter Programms der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands

von 1891 erinnert werden, wo es heißt:

"Die Zahl und das Elend des Proletariats steigen ständig an."

(Programmentwurf der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, in: Friedrich

Engels: 'Kritik am Entwurf des sozialdemokratischen Programms von 1891', in:

Karl Marx & Friedrich Engels: 'Gesammelte Werke', Band 27, Moskau 1990, S. 223).

Wozu Engels schrieb:

"Dies ist falsch, wenn es in einer solch kategorischen Form behauptet wird.

Was jedoch ganz bestimmt zunimmt, ist die Unsicherheit der Existenz. Ich wür-

de dies einfügen."

(Friedrich Engels: Ebenda, S. 223).

 

8. Ein revisionistisches Komplott?

Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass die Arbeiterklasse mit der Entwicklung des

Kapitalismus nicht mit einem ständigen Rückgang ihrer Reallöhne konfrontiert ist und

dass Marx in dieser Beziehung keinerlei derartige These aufgestellt hat.

Die Frage erhebt sich deshalb, wie konnte die Vorstellung aufkommen, dass Marx an-

geblich die falsche Theorie von der Verelendung der Arbeiterklasse mit der Entwicklung

des Kapitalismus vertreten hat?

War dies das Ergebnis einer bloßen Fehlinterpretation von Marx' Ansichten in dieser Frage?

Oder war es das Ergebnis von etwas Finsterem - eine bewusste Verdrehung von Marx' An-

sichten, um ihn zu diskreditieren, in dem ihm Ansichten untergeschoben wurden, deren

Unrichtigkeit die Arbeiter - zumindest die in den entwickelten kapitalistischen Ländern -

aus eigener Erfahrung nachvollziehen konnten?

Es muss zu allererst angenommen werden, dass die Entstellung des Marxismus, die

sich in der Theorie von der wachsenden Verelendung der Arbeiterklasse im Kapitalismus

wiederfindet, von bestimmten Revisionisten ausging, das heißt von jenen, die mit einer

politischen Bewegung verbunden waren, die aus reaktionären politischen Beweggründen

sich das Ziel setzte, den Marxismus zu entstellen und zu revidieren:

"Die so genannte 'Theorie der wachsenden Armut' ... wurde Marx zuerst von be-

stimmten Revisionisten zugeschrieben."

(Karl Kühne: Ebenda, S. 197).

"Die 'Theorie der absoluten Verelendung' findet sich nicht in den Werken von Marx.

Sie wurde ihm von bestimmten politischen Gegnern zugeschrieben, besonders von

der so genannten 'revisionistischen' Strömung in der Deutschen Sozialdemokrati-

schen Partei."

(Ernest Mandel, 1968: Ebenda, S. 150).

Und die scharfsinnigeren Autoren erkannten, dass ihre Verbreitung Teil eines revisionisti-

schen Komplotts war, um den Marxismus zu diskreditieren:

"Eine ganze Richtung, angeblich othodoxe Marxisten, hat es für nötig befunden,

diese 'Theorie der Verelendung' zu übernehmen und sie konsequent und in böser

Absicht zu verteidigen, um die marxistische Theorie zu diskreditieren."

(Ernest Mandel, 1968: Ebenda, S. 150).

Einer der ersten, der das 'Gesetz der absoluten Verelendung' Marx zuschrieb und es dann

als falsch anprangerte, war der deutsche Sozialdemokrat Eduard Bernstein (1850-1942),

der als

" ... Vater des Revisionismus"

('New Encyclopaedia Britannica', Band 2, Chicago 1994, S. 154).

gilt.

1899 entwickelte Bernstein seine Ansichten in 'Voraussetzungen des Sozialismus', wo

er meint:

"Die Annahme von der 'Hoffnungslosigkeit' der Lage der Arbeiter ... zieht sich

durch die gesamte radikal-sozialistische Literatur. ...

Wenn die Lage der Arbeiter heute immer noch hoffnungslos wäre, dann wäre

diese Annahme auch immer noch richtig. Herrn Plechanows Vorwurf beinhaltet,

dass sie es ist. Ihm zufolge ist die Hoffnungslosigkeit der Lage der Arbeiter

ein unbestreitbarer Lehrsatz des 'wissenschaftlichen Sozialismus'. ... Die Tat-

sache, dass Marx und Engels einst einer Fehlannahme aufgesessen waren,

rechtfertigt nicht, sie aufrechtzuerhalten; und eine Wahrheit verliert nicht schon

deswegen ihre Gültigkeit, weil sie zuerst von einem antisozialistischen oder

nicht vollständig sozialistischen Ökonomen entdeckt und vertreten wurde."

(Eduard Bernstein: 'Die Voraussetzungen des Sozialismus', Cambridge 1993, S. 193f).

Kurz, Bernstein

" ... zeigte, dass ... das Los des Proletariats sich nicht verschlechtert hatte. ..."

('Encyclopedia Americana', Band 3, New York 1977, S. 613).

...mit der Entwicklung des Kapitalismus.

Im Herbst 1915 wurde das 'Gesetz der Verelendung der Arbeiterklasse' im Kapitalismus

von dem russischen Revisionisten Nikolai Bucharin (1888-1938) in seinem Buch 'Imperia-

lismus und Weltwirtschaft' vertreten, der auf seinem öffentlichen Prozess im März 1938

gestand, gegen die Sowjetunion Verrat geübt zu haben:

"Es findet nicht nur eine relative, sondern auch eine absolute Verschlechterung

der Lage der Arbeiterklasse statt."

(Nikolai Bucharin: 'Imperialismus und Weltwirtschaft', London 1972, S. 159).

In anderen Arbeiten - wie zum Beispiel in der 'Restauration des Kapitalismus in der Sow-

jetunion' oder in 'Die historische Bedeutung von Stalins 'Ökonomische Probleme des So-

zialismus in der UdSSR' ' hat die Communist League die Offensive der sowjetischen Re-

visionisten gegen den Marxismus-Leninismus in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg

beschrieben und dokumentiert. 1953 hatte diese Offensive mit der Einstellung der Ver-

öffentlichung von Stalins Werken (1949) und der Absetzung Stalins als Generalsekretär

der KPdSU (Oktober 1952) wichtige Erfolge vorzuweisen.

Der in Ungarn geborene sowjetische Ökonom Jewgeni Varga (1879 bis 1964) war selbst

ein Revisionist, stand jedoch der herrschenden revisionistischen Clique um Chruscht-

schow kritisch gegenüber. In seinem Buch 'Polit-Ökonomische Probleme des Kapitalis-

mus' berichtet er, dass direkt vor Stalins Tod (genauer: 'Ermordung', die Bland selbst in

einer seiner Analysen wie in: 'Der Ärzteprozess und der Tod Stalins' nachwies - Übers.)

" ... zwischen 1947 und 1953 die führenden Mitarbeiter des Ökonomischen In-

stituts der Akademie der Wissenschaften der UdSSR ... die Ansicht, dass die

absolute Verelendung der Arbeiterklasse überall in der kapitalistischen Welt

anzutreffen sei, offiziell übernahmen. Einige sprachen sogar von einer fortge-

setzten zunehmenden Verelendung, d. h. eines fortschreitenden Rückgangs

der Reallöhne. Zu jener Zeit schrieb ich, dass selbst ein relativ schwacher fort-

gesetzter Rückgang der Reallöhne in einer verhältnismäßig kurzen historischen

Periode die Löhne auf Null herunterfahren würde. ... Aber meine Einwände wur-

den ignoriert."

(Jewgeni Varga: 'Polit-Ökonomische Probleme des Kapitalismus', Moskau 1968, S. 114).

Varga weiter:

"Wir sind der Meinung, dass ihre Ansicht von der konstanten und unausweich-

lichen absoluten Verelendung der Arbeiterklasse nicht nur falsch, sondern so-

gar politisch schädlich ist."

(J. Varga: Ebenda, S. 119).

Der Übergang der Linie der KPdSU in den späten vierziger Jahren zur Linie, die die revi-

sionistische Position in der Frage der absoluten Verelendung der Arbeiterklasse über-

nahm, widerspiegelte sich im Stichwortregister der Ausgaben des 'Kapitals', die unter

der Kontrolle der Chruschtschowrevisionisten veröffentlicht wurden.

In der britischen Nationalbibliothek, der 'British Library' in London, gibt es 16 verschiede-

ne Ausgaben von Band 1 des marxschen 'Kapitals' in englischer Sprache. Von diesen

besitzen sieben kein Sachregister, während neun über eines verfügen.

Von den Ausgaben, die Sachregister besitzen, erwähnen sechs - die Ausgaben von 1915

(Chicago), die von 1928 (London), die von 1933 (London), von 1938 (London), von 1952

(Chicago) und die von 1967 (Harmondsworth) - nicht die 'absolute Verelendung'. Dieses

Stichwort wird nur in drei Ausgaben aufgeführt, nämlich in der Ausgabe von 1974 (Mos-

kau), in der von 1983 (Moskau) und der Londoner von 1983, welche eine englische Ver-

sion der Moskauer Ausgabe von 1983 darstellt. Das bedeutet, dass das Stichwort 'ab-

solute Verelendung' nur in den Ausgaben auftaucht, die unter der Aufsicht der Chruscht-

schowrevisionisten herausgegeben wurden. In diesen finden sich zwölf Hinweise auf die

'absolute Verelendung'.

In diesen drei Ausgaben wurde der Text nicht verändert und die Seiten, auf die im Stich-

wortregister unter 'absoluter Verelendung' verwiesen wird, führen diesen Begriff nicht.

Was hier tatsächlich passiert ist, ist nichts anderes als eine Neuinterpretation - oder

genauer: Fehlinterpretation - des gleichen Textes von Marx, um den Absichten der

Sowjetrevisionisten zu entsprechen.

In diesem Zusammenhang ist eine Bemerkung von Engels aus einem Brief vom Mai

1893 interessant:

"Textstellen aus Marx' Werken und aus seinen Briefen sind auf die widersprüch-

lichste Art ausgelegt worden, so als ob es sich um Texte der Klassiker oder

um das Neue Testament gehandelt hätte."

(Friedrich Engels: Brief an Isaac A. Hourwich, 27. Mai 1893, in: Karl Marx &

Friedrich Engels: 'Briefe an Amerikaner: 1848-1895. Eine Auswahl', New York

1953, S. 254).

Die falsche Marxdeutung in der Frage der absoluten Verelendung der Arbeiterklasse

lässt sich anhand des Buches 'Politische Ökonomie', ein Lehrbuch, das 1954 vom

Institut für Ökonomie bei der Akademie der Wissenschaften der UdSSR herausgege-

ben wurde, veranschaulichen. Dort heißt es:

"In dem Maße, wie sich der Kapitalismus entwickelt, findet ein Prozess ...

der absoluten Verelendung des Proletariats statt ...

Tatsachen ... beweisen, dass im Kapitalismus der Lebensstandard der Ar-

beiter ständig sinkt. ... Die absolute Verelendung des Proletariats zeigt sich

im Sinken der Reallöhne. ... Die absolute Verelendung des Proletariats drückt

sich aus in der tatsächlichen Verschlechterung der Ernährung und der Wohn-

verhältnisse der arbeitenden Menschen."

('Politische Ökonomie': Ein Lehrbuch, herausgegeben vom Institut für Ökonomie

bei der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, London 1957, S. 169f).

In dem Bemühen, dieser Textstelle einen Anschein von Seriosität zu verleihen, fügen die

Autoren dieses Werkes das folgende Leninzitat hinzu, wonach der Arbeiter in Deutsch-

land 1912

" ... absolut verelendet, d. h. er ist tatsächlich ärmer als vorher, er ist gezwun-

gen, schlechter zu leben, schlechter zu essen, größeren Hunger zu leiden und

in Kellern und auf Dachböden zu wohnen."

(Wladimir I. Lenin: 'Die Verelendung in der kapitalistischen Gesellschaft', in:

'Gesammelte Werke', Band 18, Moskau 1963, S. 435).

Lenin jedoch spricht hier von einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit, nämlich

von Deutschland im Jahre 1912. Er entwickelt hier keineswegs ein Prinzip für die kapita-

listische Gesellschaft insgesamt.

Der Renegat und ehemalige Generalsekretär der KP der USA, Earl Browder (1891-1973),

beschreibt, wie die revisionistische Auslegung der absoluten Verelendung der Arbeiter-

klasse in den späten 40iger Jahren von den sowjetischen Revisionisten in ein 'Instru-

ment des intellektuellen Terrors' verwandelt wurde:

"Das 'Gesetz von der absoluten und relativen Verelendung' wird in den russischen

Lehrbüchern zur Ökonomie nie definiert. ... Dieses undefinierte und mysteriöse

Gesetz ist zu einem Testfall der 'Orthodoxie' gemacht worden; es ist so mächtig,

dass, wenn einem vorgeworfen werden kann, dass man es vernachlässigt, ganze

Einrichtungen abgeschafft werden, Zeitschriften unterdrückt werden und lange

respektierte Namen in den Dreck gezogen werden. ... Das neue Dogma tritt auf

als klassisches Mittel, um die Gedankenkontrolle durchzuführen. ... Es bean-

sprucht die Würde eines 'Gesetzes', entzieht sich jedoch jeder klar umrissenen

Definition. Es nimmt die Autorität von Marx in Anspruch, aber entfernt sich von

seinen Texten durch einen neuen Namen, um zu verhindern, auf irgendeine be-

stimmte Norm festgelegt zu werden. ...

Die 'Schönheit' eines solchen nicht definierten Gesetzes als ein Instrument des

intellektuellen Terrors liegt in der Tatsache begründet, dass, da niemand weiß,

was es genau ist, es auch niemand widerlegen kann. Auf diese Weise wird es zu

einem idealen Werkzeug einer unpersönlichen Bürokratie. Es ist die Verherrlich-

ung der Irrationalität, es ist die Auflösung aller Gesetze."

(Earl Browder: 'Marx und Amerika', London 1959, SS. 84, 86f).

Der Widerstand gegen die Entstellung von Marx' Schriften, der selbst von Revisionisten

wie Varga geübt wurde, führte dazu, dass jene Entstellung nicht in das Programm der

KPdSU, das vom 22. Parteitag im Oktober 1961 verabschiedet wurde, aufgenommen wur-

de. Der Ökonom Wiktor Tscheprakow berichtet, dass in den 60iger Jahren

" ... die Frage der absoluten Verelendung im Kapitalismus in marxistischen

Abhandlungen zutreffend wiedergegeben wurde. ...und ältere Ansichten dazu

wurden im Lichte der marxistisch-leninistischen Theorie korrigiert."

(Wiktor Tscheprakow: Einführung zu: J. Varga: Ebenda, S. 7).

So folgt die Formulierung, die mit Bezug auf die absolute Verelendung der Arbeiterklasse

auf dem 22. Parteitag der KPdSU verabschiedet wurde, marxistisch-leninistischen Grund-

sätzen und nicht revisionistischen. Es heißt dort, dass die Entwicklung des Kapitalismus

" ... zu einer relativen und manchmal auch absoluten Verelendung der Lage der

Arbeiterklasse" ..

(Programm der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, verabschiedet auf dem

22. Parteitag der KPdSU, Oktober 1961, Moskau 1961, S. 10).

..führt.


9. Schlussfolgerung

Die absolute Verelendung der Arbeiterklasse ist weder eine Theorie von Marx,

noch ein Merkmal des Kapitalismus im Allgemeinen.

Die Unterstellung, dass die absolute Verelendung der Arbeiterklasse auf Marx

zurückgehe, war Teil eines revisionstischen Komplotts, um Marx und den Marxis-

mus zu diskreditieren.

 

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Akademie der Wissenschaften der UdSSR, London 1957.

Programm der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, verabschiedet auf dem 22.

Parteitag der KPdSU, Oktober 1961, Moskau 1961.

 

Hinweis des Übersetzers:

Diese Analyse von William B. Bland wurde im Internet auf den Seiten von 'Marxist

Leninist North America' von Hari Kumar veröffentlicht, allerdings nur bis zu der Über-

schrift 'Ein revisionistisches Komplott'. Bland als Autor wurde nicht erwähnt.

Den 'Resttext' fand ich im Internet auf den Seiten von 'Communist Party Alliance'.

Dort war jedoch die Bibliografie zu der Analyse weggelassen worden. Immerhin erfährt

man dort, dass es sich um einen Text von Bill Bland handelt.

Der Leser mag sich dazu sein eigenes Urteil bilden.