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William B. Bland

ANMERKUNGEN ÜBER HISTORISCHE FORSCHUNG

Das Folgende ist die Wiedergabe eines Vortrages, den Genosse Bland 1977 in der Sommerschule der 'Communist League of Britain' hielt, in dem er ausführliche Angaben über seine historische Forschungsmethode machte.

"Das Politbüro bat mich, etwas über die Methode zu sagen, die ich bei meinen historischen Untersuchungen anwende. Wenn ich dies tue, dann muss ich betonen, dass es sich hier um eine Methode handelt, die ich, ohne dafür besonders qualifiziert zu sein, im Laufe von Jahren nach dem gesunden Menschenverstand und nach vielem Probieren entwickelt habe. Ich beanspruche keineswegs, dass dies die beste Methode ist, und ich bin auch sicher, dass das Politbüro die Kommentare, die andere Genossen dazu abgeben möchten, veröffentlichen möchte.

Ich bin der Meinung, dass ich diese Methode am besten verdeutlichen kann, wenn ich einen konkreten Untersuchungsgegenstand, an dem ich zur Zeit arbeite, heranziehe. Es ist etwas über den Trotzkismus, etwas über die Ermordung Trotzkis in Mexiko-City im Jahre 1940. ...

Natürlich bin ich an die Sache mit gewissen vorgefassten Meinungen herangegangen. Ich war nämlich in dem Glauben, dass sämtliche trotzkistischen Gruppen sich darin einig sind, dass die Ermordung Trotzkis auf das Konto der sowjetischen Geheimpolizei geht, die auf Befehl Stalins gehandelt habe, während andererseits die Kommunistischen Parteien damals die Tat als die eines enttäuschten Trotzkisten bezeichneten.

Meiner Meinung nach ist der erste und wichtigste Schritt bei einem Forschungsprojekt der, dass man alles tun muss, um die Vorurteile, die wir ja alle haben, zu unterdrücken. Auf mich bezogen bedeutete das: Meine Gegnerschaft gegen den Trotzkismus und meine Bewunderung für Stalin veranlassten mich sofort, die trotzkistische Theorie zurückzuweisen. Diese Einstellung ist fatal. Der Zweck historischer Untersuchungen besteht nicht darin, nur Fakten ans Tageslicht zu bringen, die die eigenen Vorurteile und die eigene vorgefasste Meinung bestätigen, sondern darin, die objektive Wahrheit, so weit dies irgend möglich ist, herauszubekommen. Eine Theorie, die sich nicht auf die objektive Wahrheit stützen kann, ist für die Sache der Veränderung der Welt unbrauchbar.

Wo kann man beginnen?

Ich begann mit dem Lesen von Isaac Deutschers Trotzkibiografie, und zwar mit dem Abschnitt, in dem die Ermordung behandelt wird. Ich habe mir ihn zunächst einmal durchgelesen und habe dann noch einmal beim Lesen all jene Stellen, die mir besonders bedeutsam erschienen, unterstrichen. Anschließend habe ich diese Sätze auf verschiedenen Blättern abgetippt, überschrieben mit dem Datum - z.B. mit dem 17. August 1940 - auf das sich die unterstrichenen Stellen bezogen.

Hier muss ich erwähnen, dass Deutscher der trotzkistischen Theorie zuneigt, derzufolge die Ermordung von Agenten der GPU ausgeführt wurde. Aber das ist nicht so wichtig. Womit man sich zu beschäftigen hat, sind die einzelnen Tatsachen, die von Deutscher angeführt werden.

Aber es kann nun natürlich sein, dass die 'einzelnen Tatsachen', die Deutscher anführt, nicht der Wahrheit entsprechen. Deshalb ist der nächste Schritt, dass man unter jede einzelne Tatsache die Quelle anführt, die der Autor dafür angibt.

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Zum Beispiel unter dem Bekennerschreiben, das der Mörder Jacson zur Tatzeit bei sich führte, in dem er seine Absicht zum Ausdruck bringt, Trotzki zu töten, weil er zu dem Schluss gekommen war, dass dieser ein 'Scheinrevolutionär' ist. Als Quelle werden die Polizeiberichte, die vom Chef der mexikanischen Polizei später in einem Buch über die Untersuchung veröffentlicht wurden, angeführt.

Es ist natürlich nicht möglich, sich alle Bücher zu kaufen, auf die im Rahmen eines Forschungsprojekts Bezug genommen wird; und jenes Buch wird ohnehin schon seit langem nicht mehr aufgelegt. Wenn es sich um ein Buch handelt, aus dem ich nur ein oder zwei Stellen benötige, dann such ich es in der Universitätsbibliothek, wo ich es meistens sehr viel schneller erhalte als im Lesesaal des Britischen Museums. Wenn es sich jedoch um ein Buch handelt, das aller Wahrscheinlichkeit viel wertvolles Material enthält, dann leihe ich es mir hier in meiner Bibliothek aus, damit ich dann zuhause in Ruhe in ihm lesen kann. Ich stelle bei mir immer wieder fest, dass, wenn ich mir aus einem bestimmten Buch in der Bibliothek viele Auszüge gemacht habe, dass es dann meistens einige Wörter in meinen Aufzeichnungen gibt, die ich nicht mehr entziffern kann, wenn ich bei mir zuhause dabei bin, die Auszüge abzutippen. Das bedeutet dann, dass ich noch mal wieder zurück muss, um die abgetippten Auszüge mit der Quelle zu vergleichen, um die unleserlichen Wörter zu finden!

Nachdem ich mir den Bericht des Polizeichefs durchgelesen hatte, stellte ich fest, dass Deutschers Darstellung des Bekennerschreibens korrekt war.(Natürlich musste dies nicht nicht zwangsläufig der Fall sein. In der Forschung darf man nichts als selbstverständlich hinnehmen!!).

Dies schien die Tatsache zu bestätigen, dass der Mörder der Welt zu verstehen geben wollte, dass er ein enttäuschter Trotzkist war, und dass seine Enttäuschung das Motiv für seine Tat war. Das bewies aber nicht, dass sie auch tatsächlich das wirkliche Motiv war! Wenn Jacson, wie die Trotzkisten behaupten, ein Agent der GPU (sowjetische Geheimpolizei - Übers.), hätte er Grund gehabt, ein falsches Motiv anzugeben.

Der Prozess des Forschens geht auf diese Weise weiter. Jedes neue Buch, auf das Bezug genommen wird, enthält Einzelheiten aus anderen Büchern oder Artikeln, die herangezogen werden müssen. Zuerst wird dann die Liste immer umfangreicher, aber in dem Maße wie die Arbeit vorankommt stellt man fest, dass die Zahl der nicht berücksichtigten Bücher immer weiter abnimmt, und schließlich kann man von sich behaupten, dass man, soweit man dies selbst beurteilen kann, alle wichtigen Werke zu Rate gezogen hat.

Dies ist natürlich ein sehr zeitraubendes Unterfangen. Es kann sein, dass man einen ganzen Tag braucht, um ein bestimmtes Zitat wieder zu finden, dann nämlich, wenn der Zitierende es unterlassen hat, die Seite anzugeben. Deshalb meine ich, dass ein Körnchen Wahrheit in meinem alten Witz ist, dass nur hartgesottene, antisoziale Leute wie ich in der Lage sind, unablässig Nachforschungen anzustellen.

Wenn man dabei ist, die Fakten zu ermitteln, kann es sein, dass man in der Lage ist, in Erfahrung zu bringen, dass dieser oder jener dieses oder jenes gesagt hat. Aber die Frage bleibt: Hat er auch die Wahrheit gesagt?? Es kann sein, dass es schwierig ist, dies mit Sicherheit festzustellen. Aber ich glaube, dass man dann fairerweise von der Wahrheit einer Feststellung ausgehen kann, wenn jemand ein Eingeständnis macht, das seiner eigenen Interessenlage widerspricht.

In dem vorliegenden Fall, der hier zur Untersuchung ansteht, entdeckt man zum Beispiel, dass einige Tage nach der Ermordung Trotzkis der diensthabende Wächter Joseph Hansen, der den Mörder in Trotzkis 'Festung' in Mexiko-City hineinließ - er ist danach lange Zeit Führer der trotzkistischen 'Arbeiterpartei' der USA gewesen - eine geheime Unterredung mit einem FBI-Agenten in der US-Botschaft in Mexko-City hatte. Diese Tatsache findet sich in Dokumenten des US-Außenministeriums, die kürzlich zum ersten Mal veröffentlicht

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wurden, und sie wird auch durch Hansens eigenes verspätetes Eingeständnis bestätigt, das er in der Zeitschrift der SAP machte (Sozialistische Arbeiterpartei - Übers.).

Darüber hinaus stößt man auch auf das Eingeständnis des damaligen Chefs der Spionageabwehr des FBI, der zugab, dass seine Agenten damals mit oppositionellen Agenten der GPU, die in den USA als Doppelagenten tätig waren, zusammen gearbeitet haben.

Diese beiden Fakten für sich genommen stellen schon die landläufige trotzkistische Theorie in Frage, dass Trotzkis Ermordung auf das Konto eines 'stalinistischen Hinrichtungskommandos' geht.

Ich finde auch, dass man sich bei der Bewertung von Fakten von dem Prinzip 'cui bono?' (wem nützt es?) leiten lassen sollte. Die offizielle GPU wurde 1940 von Berija geleitet, einem marxistisch-leninistischen Mitstreiter Stalins. Das er dies war, wird durch zahllose Fakten belegt. Nun weiß man aber, dass Marxisten-Leninisten politische Morde verurteilen, und man muss daran erinnern, dass die Anhänger Trotzkis in der Vierten Internationale eine verschwindend kleine Gruppe ausmachten und kurz davor waren, sich in rivalisierende Grüpschen aufzuspalten. Vom Standpunkt der Marxisten-Leninisten in der Sowjetunion aus gesehen wäre die Ermordung Trotzkis kontraproduktiv gewesen und man weiß, dass sie davor warnten, dass er von rechten Kräften umgebracht werden könnte, in der Absicht, Hass gegen die Sowjetunion zu schüren.

Die Fakten belegen auch, dass die Ermordung nicht ein gänzlich individueller Akt war, sondern Teil einer im Voraus geplanten Verschwörung. Welche politischen Kräfte konnten 1940 von Trotzkis Ermordung profitieren?

In der Studie zur Rolle Stalins, die bereits veröffentlicht wurde, hat unsere Organisation darauf hingewiesen, dass es der Plan der oppositionellen Verschwörer in der Sowjetunion war, im Falle eines Krieges mit Nazideutschland, den deutschen Truppen die Front zu öffnen und dann die Sowjetregierung durch einen Militärputsch zu stürzen.

Worin bestand Trotzkis Position, dem eigentlichen Urheber dieses Plans?

Trotzki beharrte kurz vor seinem Tod jedoch darauf, dass die Sowjetunion ein Arbeiterstaat sei, und dass es deshalb Pflicht der Opposition in der Sowjetunion sei, im Falle eines imperialistischen Angriffs, Seite an Seite mit den 'Stalinisten' an der Verteidigung des Landes teilzunehmen.

Es wird hieraus deutlich, dass im Jahre 1940, als der deutsche Überfall nur noch wenige Monate bevorstand, Trotzki inzwischen zu einem Hindernis für die vollständige Realisierung jener Pläne geworden war. Deshalb kann es auch kein Zufall gewesen sein, das eben zu jener Zeit (1939-40) ein Teil der Führung der trotzkistischen SAP in den USA mit Trotzki in dieser Frage gebrochen hatte, weil diese Leute der Meinung waren, dass die Sowjetunion kein Arbeiterstaat mehr war, sondern ein staatskapitalistischer Staat, und dass es deshalb für 'Marxisten' ein 'Verbrechen' sei, mit der 'stalinistischen Bürokratie' gemeinsam imperialistische Angriffe zurückzuweisen.

Die Untersuchungen hierzu sind jetzt noch nicht abgeschlossen. Aber sie sind schon an einem Punkt angelangt, wo man sagen kann, dass sie sowohl die trotzkistische Theorie, derzufolge die Ermordung von 'Stalins Agenten' vorgenommen wurde, als auch die geläufige KP-Theorie, wonach es das Werk eines enttäuschten Trotzkisten gewesen sein soll, widerlegen. Sie weisen jetzt schon auf die Wahrscheinlichkeit hin, dass eine neue Theorie der Wahrheit entspricht: dass nämlich die Ermordung Trotzkis das Werk von oppositionellen Verschwörern war, die mit dem US-Geheimdienst zusammengearbeitet haben und die Tat nach dem Motto 'Rettet den Trotzkismus vor Trotzki' - ein Motto, das von Max Shachtman vertreten wurde (dem Führer der 'staatskapitalistischen' Theoretiker in der SAP) - ausführten.

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Wenn man diese neue Theorie zugrundelegt, versteht man auch, weshalb das Verlangen der trotzkistischen 'Revolutionären Arbeiterpartei' nach einer Wiederaufnahme der Untersuchungen zur Ermordung Trotzkis auf eine 'vereinigte Front' der heftigsten Ablehnung auf Seiten praktisch sämtlicher trotzkistischer Gruppen - angefangen bei der 'militanten Gruppe' bis hin zur Gruppe der 'Internationalen Marxisten' und der 'Sozialistischen Arbeiterpartei' (früher 'International Socialists') - gestoßen ist, die der 'Revolutionären Arbeiterpartei' vorwerfen, dass ihre Kampagne darauf hinausläuft, Hansen nicht nur als Agent der GPU, sondern auch des US-Geheimdienstes zu 'verleumden'.

Aus den Fakten, die zu einem bestimmten Ereignis zusammengetragen wurden, ergibt sich zwangsläufig ein bestimmtes Bild. Das Wesen des dialektischen Materialismus besteht meiner Meinung nach darin, zu entdecken, dass 'alles Sinn ergibt', so dass das Bild, das als Ergebnis der Faktensammlung entstanden ist, auch Sinn ergibt. Sollte es jedoch innerlich widersprüchlich sein, dann kann dies nur daran liegen, dass eine oder mehrere Tatsachen, auf die es sich stützt, falsch sein müssen oder daran, dass die Interpretation der Tatsachen unrichtig sein muss.

Ist man dann zu einem klaren Bild von einem bestimmten Ereignis gekommen, ist es notwendig, das ganze Material erneut zu sichten. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass, wenn man erst einmal zu einem zutreffenden Bild gelangt ist, auch andere Fakten, die man in der ersten Runde noch als unwichtig abgetan hat, plötzlich Bedeutung erlangen und sich logisch in das Bild einfügen.

Um zusammenzufassen, was meiner Meinung nach das Wesentliche der historischen Forschung darstellt, würde ich sagen, dass das folgende Prinzip in den Vordergrund gerückt werden muss:

"Nichts ungefragt hinnehmen - alles überprüfen!"

Wenn ich jetzt die theoretische Arbeit und die Wichtigkeit der Forschung unterstreiche, dann möchte ich sie nicht der praktischen Arbeit entgegenstellen. Aber: Praktische Arbeit ist nutzlos, wenn sie nicht auf einer richtigen Theorie beruht. Und um zu einer richtigen Theorie zu gelangen, muss man forschen. ... Es gibt keinen Gegensatz zwischen Theorie und Praxis. Beide sind untrennbar miteinaner verbunden und wesentlich."