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Bertolt Brecht:

 

Über die Moskauer Prozesse

 

Was die Prozesse betrifft, so wäre es ganz und gar unrichti­g, bei ihrer Besprechung eine Haltung gegen die sie veran­staltende Regierung der Union einzunehmen, schon da diese ganz automatisch in kürzester Zeit sich in eine Haltung gegen das heute vom Weltfaschismus mit Krieg bedrohte russische Prole­tariat und seinen im Aufbau begriffenen Sozialismus verwandeln mußte. Die Prozesse haben auch nach der Meinung erbitterter Gegner der Sowjetunion und ihrer Regierung mit aller Deutlich­keit das Bestehen aktiver Verschwörungen gegen das Regime er­lesen und daß diese Verschwörernester sowohl Sabotageaktionen im Inneren als auch gewisse Verhandlungen mit faschistischen Diplomaten über die Einstellung ihrer Regierungen bei einem eventuellen Regimewechsel in der Union durchgeführt haben. Ihre Politik beruhte auf Defaitismus und hatte die Herbeifüh­rung von Defaitismus zum Ziel. Zweifel an der Möglichkeit eines Aufbaus des Sozialismus in einem Lande, Überzeugtheit in der Dauer des Faschismus in anderen Ländern, die Theorie in der Unmöglichkeit, die unentwickelten Randgebiete unter Überspringung des Kapitalismus wirtschaftlich zu entwickeln, werden von allen Angeklagten, soweit sie politisch argumentie­ren, zugegeben. Die psychologische Seite der Prozesse ist in­zwischen immer mehr eine politische Angelegenheit geworden.

Die sympathisierenden Intellektuellen erschrecken ehrlich über die Geständnisse. Sie halten es für unmöglich, daß die als große Revolutionäre bekannten Angeklagten sich zu solchen De­likten wie Wirtschaftssabotage, Spionage (und dazu bezahlter!) und Morden (und dazu an Gorki!) bekennen würden ohne irgend­welchen unhumanen "Druck" von seiten der Untersuchungsbehör­den; insbesondere, da diese fast ganz unbekannt sind, was ihre eigene revolutionäre Vergangenheit betrifft. Für das Vorliegen eines solchen Drucks gibt es an sich sowenig Beweise wie dage­gen. Für ihn macht man geltend, daß die Geständnisse weit über vernünftigerweise denkbare Vergehen hinausgehen und eine neue voraussetzen, die wieder eine absolute Einsicht in die eigene falsche Konzeption voraussetzt: Es fragt sich also zu­nächst, ob eine politische Konzeption denkbar ist, die die zu­gestandenen Handlungen der Angeklagten motivieren könnte.

 

Eine solche Konzeption ist denkbar. Die unerläßliche Grundan­nahme einer solchen Konzeption wäre: eine unüberbrückbare Kluft zwischen dem Reime und den Massen, und diese Kluft müßte, um eine Politik wie die der Angeklagten zu motivieren, nicht nur als Kluft zwischen einem hohen Funktionärskörper

und den Massen der Arbeiter und Bauern, sondern als Kluft zwi­schen der Kommunistischen Partei im Ganzen und diesen Massen angesehen werden (denn der Apparat allein wird kaum den Verlust jedes Krieges herbeiführen können). Ein solches Phä­nomen könnte wiederum nur auf dem Zutagetreten unvereinbarer Interessengegensätze zwischen Arbeiter- und Bauernschaft be­ruhend gedacht werden. Man müßte eine völlige Unmöglichkeit für die Beherrschung der Produktion durch die Arbeiterschaft annehmen, damit dann auch eine Unmöglichkeit für die. Beherr­schung der Armee durch die Arbeiterschaft. Nähme man diese Unmöglichkeit an, könnte man zu einer Politik der Sabotage versucht sein: um die im Gange befindlichen Experimente vor ei­ner totalen Schwächung des Proletariats als utopisch zu ent­hüllen. Außenpolitisch müßte man sich auf Zugeständnisse ge­faßt machen von der Art, wie sie in den Prozessen besprochen wurden. Das Ganze ist eine Konzeption, die jedem Sozialdemo­kraten zuzutrauen wäre. So denkbar also eine solche Konzeption ist, so denkbar ist es, daß sie als falsch eingesehen werden kann. Dies besonders, da sich das soziale Leben auf Grund der stürmisch fortschreitenden Produktionsausweitung sehr rasch verändert. Die für Revolutionäre so belastende Zusammenarbeit mit kapitalistischen Generalstäben könnte auch "bloß" eine solche mit Einzelpersonen sein, die von diesen ausländischen Stellen bezahlt sind. Das macht im Endeffekt keinen Unter­schied, weder für die Anklage, noch für die Angeklagten. Sie sehen sich eben umringt von jedem Gesindel, das an solchen defaitistischen Konzeptionen Interesse hat. Einzugehen auf die Frage, ob sich die Sowjetunion in ihrer jetzigen Lage imstande sieht, bei der Aufdeckung und Diffamierung lebensge­fährlicher Verschwörungen mit konterrevolutionärer Tendenz den Forderungen des bürgerlichen Humanismus nachzukommen, ist da ganz müßig. Lenin selbst hat im Verlauf der großen Revolu­tion, als er den Terror verlangte, immer wieder gegen die rein formalistische Forderung nach einem dem tatsächlichen gesell­schaftlichen Zustand nicht entsprechenden, in factum konterre­volutionären Humanismus schärfstens protestiert. Damit wird nicht der physischen Folterung das Wort geredet, eine solche kann unmöglich angenommen werden und braucht auch nicht ange­nommen zu werden.

Die Leute reagieren so: Wenn ich höre, daß der Papst ver­haftet wurde wegen Diebstahls einer Wurst und Albert Einstein wegen Ermordung seiner Schwiegermutter und Erfindung der Re­lativitätstheorie, dann erwarte ich, daß die beiden Herren das leugnen. Gestehen sie diese Vergehen, dann nehme ich an, sie wurden gefoltert. Ich meine keineswegs, daß die Anklage so oder ähnlich ist wie meine Karikatur, aber für hier wirkt sie so. Was wir zu tun haben, ist: sie begreiflich zu machen. Wenn die in den Prozessen angeklagten Politiker zu gemeinen Verbrechern herabgesunken sind, so muß für Westeuropa diese Karriere als eine politische erklärt werden; das heißt diese Politik als zu gemeinen Verbrechen führend. Hinter den Taten der Angeklagten muß eine für sie denkbare politische Konzep­tion sichtbar gemacht werden, die sie in den Sumpf gemeiner Verbrechen führte. Solch eine Konzeption ist natürlich leicht schilderbar. Sie ist durch und durch defaitistisch, es ist, bildlich gesprochen, Selbstmord aus Furcht vor dem Tod. Aber es ist einleuchtend, wie sie in den Köpfen dieser Leute ent­standen sein mag. Die ungeheueren natürlichen Schwierigkeiten des Aufbaus der sozialistischen Wirtschaft bei rapider und immenser Verschlechterung der Lage des Proletariats in eini­gen großen europäischen Staaten lösten Panik aus. Die politi­sche Konzeption dieser Panik geht auf politische Haltungen zu­rück, die wir in der Geschichte der_ Bolschewiki vorfinden. Ich meine Lenins Haltung in der Frage Brest-Litowsk und in der Frage Neue ökonomische Politik. Selbstverständlich sind diese Haltungen, so berechtigt 1918 bzw. 1922, h e u t e ganz und gar anachronistisch, konterrevolutionär, verbreche­risch. Es besteht für sie weder Notwendigkeit noch Möglichkeit Schon in den paar Jahren, die seit dem Entstehen dieser Kon­zeption vergangen sind, hat sich das Anachronistische dieser Konzeption selbst für ihre Konzipienten herausgestellt. Sie können selber ihre Meinungen nicht mehr aufrechterhalten, emp­finden sie als verbrecherische Schwäche, unverzeihlichen Ver­rat. Die falsche politische Konzeption hat sie tief in die Isolation und tief in das gemeine Verbrechen geführt. Alles Ge­schmeiß des In- und Auslandes, alles Parasitentum, Berufsver­brechertum, Spitzeltum hat sich bei ihnen eingenistet: Mit all diesem Gesindel hatten sie die gleichen Ziele. Ich bin über­zeugt, daß diese Wahrheit durchaus wahrscheinlich klingen muß, auch in Westeuropa, vor feindlichen Lesern. Der Aasgeier ist kein Pazifist. Der Aufkäufer bankrotter Geschäfte ist für den Bankrott. Der Politiker, dem nur die Niederlage zur Macht ver­hilft, ist für die Niederlage. Der der "Retter" sein will, führt eine Lage herbei, in der er retten kann, also eine schlimme Lage.

Demgegenüber ist folgende Darstellung unwahrscheinlich: daß sich, schon während der Revolution, vom Kapitalismus be­zahlte Agenten in die Regierung der Sowjets eingeschlichen haben mit dem Vorsatz, in Rußland den Kapitalismus mit allen Mitteln wieder einzuführen. Diese Darstellung klingt unwahr­scheinlich, weil sie das Moment der Entwicklung außer Acht läßt, mechanisch, undialektisch, starr ist.

Die Prozesse sind eine Art der Kriegsvorbereitung. Die Aus­rottung der Opposition beweist nicht, daß die Partei zum Kapi­talismus zurückkehren will, wie bürgerliche Blätter (libera­listischer Prägung, "Times", "Basler Nationalzeitung", "Man­chester Guardian", wahrscheinlich auch "Temps") annehmen, son­dern daß jeder Rückzug, ja jede Schwankung, Atempause, takti­sche Umbiegung schon unmöglich geworden ist. Die Oppositionen aber hängen in der Luft, ihre Vorschläge müssen alle konter­revolutionär, defaitistisch sein, Sumpfperspektive, obgleich die ungeheure Anspannung natürlich die inneren Schwierigkeiten vermehrt. Trotzki sah zunächst den Zusammenbruch des Arbeiterstaates in einem Krieg als Gefahr, aber dann wurde er immer mehr die Voraussetzung des praktischen Handelns für ihn. Wenn der Krieg kommt, wird der "überstürzte" Aufbau zusammen­krachen, der Apparat sich von den Massen isolieren, nach außen wird man die Ukraine, Ostsibirien und so weiter abtreten müs­sen, im Inneren Konzessionen machen, zu kapitalistischen For­men zurückkehren, die Kulaken stärken oder stärker werden las­sen müssen; aber all das ist zugleich die Voraussetzung des neuen Handelns, der Rückkehr Trotzkis. Die aufgeflogenen anti­stalinistischen Zentren haben nicht die moralische Kraft, an das Proletariat zu appellieren, weniger weil diese Leute Mem­men sind, sondern weil sie wirklich keine organisatorische Basis in den Massen haben, für die Produktivkräfte des Landes keine Aufgaben haben. Sie gestehen. Es ist ihnen ebenso zuzu­trauen, daß sie zuviel. als zuwenig gestehen. Unter Umständen sind sie Werkzeuge, welche nur die Hand wechselten. Eine Be­trachtung, die auf der einen Seite nur einen mechanischen "diabolisch geschickten" Apparat, auf der anderen heroische Persönlichkeiten aus der Revolutionsepoche sieht, stempelt die Geständnisse dann zu psychologischen Rätseln.

 

(Bertolt Brecht Gesammelte Werke, Ffm. 1967, Bd. 20, S. 111ff)