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Bertold Brecht:

 

Über die Freiheit in der Sowjetunion

 

Der Kampf gegen die Sowjetunion wird von vielen Intellek­tuellen unter der Parole F ü r d i e F r e i h e i t ge­führt. Man weist anklagend auf eine große Unfreiheit hin, in der sowohl der einzelne Mensch als auch die Masse der Arbeiter und Bauern in der Union leben sollen. Die Knechtung geht an­geblich von einer Anzahl mächtiger und gewalttätiger Leute aus an deren Spitze ein einzelner Mensch steht, Josef Stalin. Die Parole wird ausgegeben und die Schilderung wird entworfen nicht nur von Faschisten, bürgerlichen Demokraten und Sozial­demokraten, sondern auch von marxistischen Theoretikern, wel­che in ehrlichem Kampf gegen Faschisten, bürgerliche Demokra­ten und Sozialdemokraten stehen. Diese Theoretiker drücken zu­gleich die Gefühle und Meinungen vieler Intellektueller aus. Sie würden bestreiten, daß sie einen Kampf gegen die Sowjet­union führen, wenn ihre Gegner, die Faschisten, bürgerlichen Demokraten und Sozialdemokraten, sie als Bundesgenossen be­zeichneten, sie würden sagen, sie seien nur gegen den "Zu­stand, in dem sich die Sowjetunion gegenwärtig befindet", ge­gen eine Anzahl mächtiger und gewalttätiger Leute dort, gegen einen einzelnen Menschen, Josef Stalin. Aber wenn die Sowjet­union in einen Krieg verwickelt würde, kämen sie mit dieser Unterscheidung in große Schwierigkeiten, denn sie könnten die Sowjetunion nur bedingt verteidigen, nur, wenn sie sich von Stalin trennte, und einen Sieg der Sowjetunion könnten sie

nicht gutheißen, wenn das ein Sieg unter Stalin, also, ihrer Meinung nach, ein Sieg Stalins wäre. Und sie können nicht be­streiten, daß schon die Kriegsvorbereitung gegen die Sowjet­union durch ihre Argumente "nur gegen Stalin" erleichtert wird.

Der Hauptgrund, warum ihre Argumente die Vorbereitung des Krieges gegen die Sowjetunion erleichtern, besteht darin, daß die Gegner der Sowjetunion auf Grund ihrer Argumente sagen: Das, was ihr wollt, ihr Sozialisten, ist in Rußland gemacht worden. Ihr schriet nach Freiheit. Ihr gabt an, was getan wer­den müßte, damit es Freiheit gehe. Nun, es wurde gemacht, und jetzt sagt ihr selber: Das ist keine Freiheit. Da, wo gemacht wurde, was ihr vorschlagt, ist keine Freiheit. Ihr habt die ganze Ökonomie umgestürzt, ihr habt alle Besitzverhältnisse ge­ändert. Ihr habt immer gepredigt, Freiheit gebe es nur, wenn die Ökonomie umgestürzt, der Privatbesitz abgeschafft würde, und jetzt geschah das, und da ist keine Freiheit.

Die Antistalinisten antworten, wenn das gesagt wird, nicht direkt, sondern sie wenden sich wutentbrannt gegen die "Stali­nisten" (denn für sie sind alle, die heute für die Sowjetunion sind, Stalinisten, das heißt von Josef Stalin bezahlte oder unterdrückte Leute) und sagen: "Da habt ihr's."

 

(Bertolt Brecht Gesammelte Werke, Ffm. 1967, Bd. 20, S. 104)