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Bertolt Brecht:

Über die Diktatur einzelner Menschen

 

Der eingreifend Denkende hält wirtschaftliche Zustände von Ländern noch verbesserungsbedürftig, wenn noch Diktaturen von Klassen oder gar von einzelnen Menschen vorhanden sind.

Wie soll zum Beispiel die fortgeschrittenste Staatsform der Welt, die des ersten großen Arbeiterstaates fertig sein, wenn seine Wirtschaftsform noch sehr verbesserungsbedürftig ist?

Die Abschaffung der Klassen bedarf eines gewaltigen An­stoßes, aber sie ist eine große, langwierige und verwickelte Arbeit. An einem bestimmten Tage wird sie beschlossen, aber in Jahren oder Jahrzehnten wird sie durchgeführt. Mit dem Be­schluß der Entfernung sind die Klassen noch nicht entfernt, noch ihr Kampf aufhört, wenn es verboten wird, davon zu reden.

Diktaturen sind Werkzeuge der Unterdrückung. Zu jeder Unter­drückung sind diese Werkzeuge nötig. Sind die Kämpfe der unterdrückenden Klasse mit den unterdrückten Klassen sehr schwer, dann führen sie meist sogar zu der Diktatur einzelner Perso­nen innerhalb der unterdrückenden Klasse. Dies kommt daher, daß die unterdrückende Klasse starke Disziplin benötigt und den eigenen verschiedenartigen Interessen nicht angesichts eines starken Feindes mächtigen Ausdruck verleihen darf.

Das Leben unter den Diktaturen gleicht sich, so verschieden auch die Zwecke und Arbeiten der Diktaturen sein mögen. Nie­mand kann für die Verewigung eines solchen Lebens sein.

Aber niemand wird einem solchen Lehen entgehen, der nicht seine Anstrengungen gegen jene Zustände richtet, welche die Unterdrückung verewigen. Es müssen jene Diktaturen unterstützt und ertragen werden, welche gegen diese Zustände der ökonomi­schen Art vorgehen. Das sind nämlich Diktaturen, welche ihre eigenen Wurzeln ausreißen.

Als das erste Drittel des 20. Jahrhunderts verstrichen war, erblickte man auf der ganzen Erde nur noch große Diktaturen einzelner Klassen oder sogar einzelner Menschen. Der Einzelne galt so entweder ungeheuerlich zuviel oder ungeheuerlich zu­wenig. Ober ganze Erdteile hinweg wurden Völker von anderen Völkern unterdrückt, und sowohl bei den unterdrückten als auch bei den unterdrückenden Völkern unterdrückten wieder einzelne Klassen die anderen. Die Wirtschafts- wie die Regierungssyste­me waren sehr verschieden, aber bei allen herrschte Unterdrüc­kung, und bei verschiedenen Völkern, wo ganz verschiedene Klas­sen herrschten, hatten doch einzelne Menschen den Großteil der Macht in ihren Händen. Es gab mehrere Staaten, deren Regie­rungssysteme eine Beteiligung mehrerer oder aller Klassen an der Macht vorsahen, aber die Art und Weise der Produktion war dort vollkommen im Interesse bestimmter Klassen festgelegt, und nur darauf kommt es an, denn nur im Hinblick darauf, auf die Produktion, können Klassen sinngemäß unterschieden wer­den.

So schien es für den einzelnen Menschen sehr schwierig, eine Auswahl zu treffen, da er ja nur Diktaturen sah, wenn Diktaturen verabscheute.

Ohne die Unterdrückung jener Bauernmassen, welche den Auf­bau einer mächtigen Industrie in Rußland nicht unterstützen wollten, kann nicht ein Zustand eintreten, das heißt geschaf­fen werden, in dem Diktaturen überflüssig sind. Den Bauern­massen kann nur durch eine mächtige Industrie geholfen werden. Sie müssen die Landwirtschaft selbst in eine Industrie umwäl­zen. Das ist eine gewalttätige Sache.

Man kann nicht sagen: In dem Arbeiterstaat Rußland herrscht die Freiheit. Aber man kann sagen: Dort herrscht die Befrei­ung.

Für die Bolschewiken entscheidet über Ablehnung oder For­cierung der Diktatur (in der einzigen bisher aufgetretenen Form, nämlich derjenigen, die in einem einzigen Mann gipfelt) nur die Erwägung, ob eine solche die Produktivkräfte hemmt oder entfaltet. Ob die Distribution bei einer Diktatur zu­nächst größere oder kleinere Teile des Volkes befriedigt,

wird nicht gefragt, wenn sie nur nicht die Entfaltung der Pro­duktivkräfte entscheidend hemmt. Auch ob das Gefühl der per­sönlichen Freiheit im großen (oder überhaupt) gesteigert wird, soll nicht über Beibehaltung oder Abschaffung der Diktatur entscheiden. Die Befreiung ist eine Befreiung der Produktiv­kräfte, alle persönliche Freiheit wird davon abhängig gemacht. Sorge um persönliche Freiheit braucht man nicht zu haben: Die Hoffnung bestand von allem Anfang an darin, daß sie erlangt werden könnte durch die Befreiung der Produktivkräfte: anders konnte sie nicht, so mußte sie entstehen. Auch die Pro­duktion hat ja als Zweck natürlich die Distribution. An der Distribution kann dann die Entfaltung der Produktivkräfte ge­messen werden.

Ob die Diktatur des Proletariats, ohne die eine Befreiung der Produktivkräfte nicht erfolgen kann, die (uns bekannte) Form annimmt, in der sie in der Diktatur eines einzelnen Man­nes gipfelt, hängt davon ab, ob in dem Land, in dem die Revo­lution stattfindet, eine solche Form für die Entfaltung der Produktivkräfte nötig ist oder nicht. Möglicherweise hängt es auch davon ab, in wie vielen Ländern die Revolution glückt. Der pure Wunsch nach persönlicher Freiheit entscheidet nicht darüber.

 

Bertolt Brecht Gesammelte Werke, Ffm. 1967, Bd. 20, S. 101 ff