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A. Schelochowzew

 

Chinesische Kulturrevolution aus der Nähe

 

Augenzeugenbericht eines sowjetischen Beobachters

(Stuttgart 1969)

 

 

Auszüge aus seinem Buch

 

 

 

 

 

Über den Verfasser

 

 

Wer sich sein Leben lang mit der chinesischen Sprache und ihrer Begriffsschrift und über sie mit der Kultur, der Geschichte, der Wirtschaft und allgemein mit dem Leben dieses gewaltigen Subkontinents beschäftigt, den nennt man einen Sinologen. Alle Sinologen bemühen sich darum, nach China zu kommen, aber es ist nicht einfach, dorthin zu reisen; besonders in den letzten acht Jahren war das so. Schließlich, am 2. Februar 1966, nachdem ich mich fast ein Jahr bemüht hatte, bestieg ich den internationalen Express 'Moskau-Peking'. Sanft setzte sich der Zug in Bewegung und ließ auf dem Bahnsteig die erstarrten Figuren der Angehörigen in ihren unmäßig dicken Pelzen zurück. In den Wagen ertönte Musik. Die Instrumente waren die gleichen wie bei uns, aber die Melodie war ganz anders. ...Als in dem eiskalten Dunst die bunten Kuppeln von Sagorsk mit dem Gold ihrer Kreuze vorüberhuschten, trat der chinesische Schaffner ins Abteil. Auf dieser Fahrt hatte die chinesische Brigade Dienst. Seine Uniform unterschied sich im Schnitt in nichts von der chinesischen Parteikleidung: genau derselbe Feldrock mit zwei aufgesetzten Brusttaschen und einem hohen, festgeschlossenen Kragen. Nur ihre Farbe war dunkler als das übliche Blau, mit einer Schattierung ins Schwarze. ...

 

 

Die Roten Garden in den Straßen Pekings

 

 

Das erste, was ich in der Stadt entdeckte: alle Buchläden waren geschlossen. Ich schlenderte durch die Passage Hsitan, in der ich so oft meine Freizeit verbracht hatte. Alle Läden und Wände der Büchergeschäfte waren mit Aufschriften beklebt. 'Bücherwürmer! Beendet unverzüglich den Handel mit dem reaktionären Gerümpel! ...' Nur ein Raum am Eingang verkaufte rechts die Werke von Mao Tse-tung (zu herabgesetzten Preisen!), daneben propagandistische Ausgaben mit Dokumenten über die 'Kulturrevolution'; auf der linken Seite verkaufte man 'Yülu', die Aussprüche Maos in mannigfaltiger Gestaltung und reproduzierte Mao-Bilder. Eine Schlange, Gedränge, in den Händen der 'Glückskinder', die bereits 'den Gegenstand erster Erfordernis' gekauft hatten, blitzende bunte Blätter. Im Raum sah ich den alten Antiquar, bei dem ich Dutzende von Büchern erworben hatte. Mit der Aufschrift 'Konterrevolutionäres Element' auf der Brust ging er, eine kleine Gießkanne in der Hand und sprengte den Steinfußboden. Das blasse, aufgedunsene Gesicht 'zierten' Pflaster. Er ging an mir vorbei, ohne sich anmerken zu lassen, dass er mich kannte. Schüler im Alter von 14 bis 16 mit roten Armbinden gingen auf und ab zwischen den auseinander getretenen Käufern oder standen hinter dem Rücken des Verkäufers. Neben dem Eingang hatten die Kinder ein Plakat geklebt: 'Hört auf, Gift auszustreuen! Weg mit dem reaktionären Buchhandel! Wir machen die Buchhandlungen zu einem Bollwerk der Gedanken Mao Tse-tungs!'

Ich erkundigte mich bei dem Verkäufer, der hinter dem Ladentisch stand, an dem man die dicken Bände der Werke Maos verkaufte und wo es etwas freier war, wann die Antiquariate geöffnet würden. Sofort umringten mich junge Burschen mit roten Armbinden und ließen den Verkäufer zu keiner Antwort kommen. Ein etwas älteres Bürschchen sagte zu mir: 'Die Geschäfte sind geschlossen, um die Sauberkeit und innere Ordnung herzustellen. Unter den Büchern, die dort verkauft wurden, wird in vielen der Vorsitzende Mao nicht erwähnt. Es gibt reaktionäre und revisionistische Bücher. Die, die mit ihnen Handel getrieben haben, werden vor den Massen Rede und Antwort stehen.' Er schlug mir vor, die Bücher Mao Tse-tungs zu kaufen. Ich lehnte ab und ging hinaus auf die Straße.

Ein Teil der Schaufenster war mit Aufrufen beklebt oder durch Fensterläden verschlossen. In allen übrigen Fenstern standen vor dem Hintergrund aus rotem Stoff, der in strahlenförmige Falten gelegt war, entweder Büsten von Mao in verschiedenen Größen oder seine Porträts in vergoldeten Rahmen. Auf der gegenüberliegenden Seite war das Schaufenster kurz und klein geschlagen. Ich ging über die Straße und stand an einem Geschäft für Schallplatten. Den Bürgersteig, der mit einem flachen, grauen, in kleine Würfel gekehlten Ziegeln quadratisch ausgelegt war wie alle zentralen Straßen Pekings, bedeckte eine Schicht zerschlagenen Schellacks. Die Splitter der Schallplatten lagen sogar auf dem Fahrdamm. Als ich sie mit dem Fuß umdrehte, bemerkte ich ein rotes Etikett und las die Aufschrift einer zerschlagenen Platte. Es handelte sich um die Aufnahme eines chinesischen Volksliedes. Ich bemerkte, als ich an der Wand neben dem Eingang des Ladens angelangt war, dass mich ein junger Bursche mit roter Armbinde beobachtet hatte. Im Laden selbst, der demoliert und verwüstet war, spazierten, sich unterhaltend, Schüler mit roten Armbinden herum. Ich ging auf den Burschen zu und fragte: 'Warum habt ihr diese Platte zerschlagen? Das ist doch ein chinesisches Volkslied?' - 'Ein schlechtes Lied', antwortete er mir mit liebenswürdigem Lächeln. 'In diesem Lied gibt es kein einziges Wort über den Vorsitzenden Mao. Solche Lieder säen Gift und dieses Geschäft ist eine schwarze Höhle der bourgeoisen Ideologie! Wir lassen nur Lieder über Mao Tse-tung übrig.'

Nebenan war ein Optikerladen. Darin hatten sich etwas ältere Burschen breitgemacht. Über dem Ladentisch, wo Brillen in teuren Einfassungen und dunkle Brillen verkauft worden waren, stand die Aufschrift: 'Brilleneinfassungen für bourgeoises Gesindel, Schmarotzer und Lumpen des ganzen Landes.' Käufer waren keine im Geschäft. Alle, die im Raum umherschlenderten, waren Rotgardisten. In der Tiefe war noch eine Aufschrift angebracht: 'Weg mit der bürgerlichen Gewohnheit, schwarze Brillen zu tragen!'

Ich ging weiter, die zentrale Straße Hsitan entlang. Im nächsten Viertel hatten die Schuljungs die Friseurgeschäfte und Schneiderateliers zerstört, die 'Brutstätten der bourgeoisen Lebensform'. Sie hatten auf die Schaufenster Ultimaten mit der Aufzählung verbotener Frisuren aufgeklebt. Man durfte keinen Scheitel tragen, das Haar nicht toupieren, kein langes Haar tragen, es nicht nach hinten kämmen usw.

An den Türen der Schneideateliers hing ein Ultimatum, das verbot, Jacketts und Hosen ausländischen Schnitts anzufertigen. Den Frauen wurde untersagt, Röcke zu tragen, die 'vom Ausland abgeschaut' worden waren. Die Drohung schneller und erbarmungsloser Abrechnung mit denen, die zuwiderhandelten, beschloss das Ultimatum.

Neben der Autobushaltestelle stand ein Posten von Rotgardisten mit Scheren in den Händen, kommandiert von einem älteren Burschen, offenbar einem Studenten. Als der Autobus herankam, stellten sich die Posten in zwei Reihen auf, bildeten einen Korridor und ließen einzeln aussteigende Fahrgäste passieren. Niemand versuchte auch nur zu protestieren, alle gingen schweigend mit gesenktem Kopf hindurch. Die Posten griffen die Mädchen mit langen Haaren heraus und auf der Stelle, ohne Erörterung, schnitten sie ihnen die Zöpfe ab. Die Mädchen leisteten keinen Widerstand. Bald war der ganze Bürgersteig mit abgeschnittenen Zöpfen übersät, mit langen und kurzen, dicken und dünnen. Einige waren mit Bändern, andere mit einem dicken, farbigen synthetischen Faden umwunden, der bei den chinesischen Mädchen modern war.

'Warum tut ihr das? Was für einen Sinn hat das?' fragte ich einen Burschen, als eine ganze Reihe von Mädchen geschoren und entlassen war. 'Wir kämpfen gegen die alten bourgeoisen Sitten', antwortete ein junger Posten auf meine Frage. 'Zöpfe zu tragen, das ist sowjetisch-revisionistischer Brauch. Wir lassen diesen Brauch in dem roten China Mao Tse-tungs nicht zu. Die chinesischen Mädchen müssen revolutionäres kurzes Haar tragen.'

'Aber was bedeutet denn das?' fragte ich ihn und zeigte auf einen mit dem Fahrrad Vorbeifahrenden. Bei einem älteren Mann war der halbe Kopf von der Stirn bis zum Nacken mit der Maschine kahl geschoren, aber auf der anderen Seite waren die glatt gekämmten, langen Haare erhalten geblieben. Die Rotgardisten begannen, durcheinander zu erzählen, dass vor drei Tagen in irgendeiner Mittelschule ein hektografiertes Ultimatum aufgetaucht sei, sich von den Scheiteln zu trennen, aber es hätten sich ein Lumpen gefunden, die beschlossen, ihre Frisur mit dem Scheitel zu behalten, und die spezielle Patrouille der Rotgardisten, die sich an einer der Kreuzungen aufgestellt hatte, habe ihn zur Strafe in dieser Weise geschoren. 'Er wird zehn Tage lang so herumlaufen! Wir passen auf!'. Da kam der planmäßig Autobus und die Rotgardisten machten sich erneut daran, den Mädchen das Haar abzuschneiden.

Nicht weit entfernt lag ein früher berühmtes Szechuan-Restaurant. Die gepfefferten Gerichte dieser Provinz sind in China sehr beliebt. Das Restaurant führte durch einen engen Korridor auf die große Straße hinaus, sämtliche Räumlichkeiten lagen hinten. Ich bog dahinein ab, nicht so sehr um des Essens willen, sondern um von dem, was sich ereignet hatte, zu mir zu kommen. Aber ich hatte mich geirrt. Der Eingang war bereits mit Verwünschungen gegen den Chef des Restaurants überklebt, den man ein 'konterrevolutionäres Element' nannte. 'Hundesöhne! Verzichtet unverzüglich auf eure fünf Prozent!' 'Es lebe die staatliche Kontrolle!'

Das Restaurant war eines vom gemischten Typ, ein halb staatliches, halb privates Unternehmen. Plötzlich forderten die Rotgardisten faktisch die Beseitigung der Kapitalisten, die in bisheriger Weise die vom Staat garantierten fünf Prozent auf das eingebrachte Kapital in Form eines Abstandes erhielten. Diese Abstandszahlungen wurden bereits viele Jahre lang gezahlt und ein Ende war nicht abzusehen. Jetzt forderten die Rotgardisten, damit Schluss zu machen...

Ich ging hinein. Quer über dem Korridor hing eine Erklärung auf der Leinwand: 'Kantine für Rotgardisten und revolutionäre Massen'. Darunter hantierte eine füllige alte Frau mit dem Besen. Auf der Brust zierte sie das Zeichen 'Ausbeuterelement'. Die Speisekarte mit Dutzenden von Gerichten war jetzt heruntergerissen und durch eine Standardkarte ersetzt: Kraut, Nudeln, Mantou...An der Essensausgabe neben den Köchen wachten die Rotgardisten. Hier konnte man sehr billig essen; für ein paar Kopeken einen unappetitlichen und komisch riechenden Kohl aus dem Vorjahr, schwärzliche Nudeln und graue Mantou. Die meisten bemühten sich trotzdem, sich irgendetwas von besserer Qualität zu nehmen. Ich stellte mich dort an, wo das kalte, gehackte Fleisch verkauft wurde. Huhn, Hammel, Schweinefleisch gab man in winzigen Stückchen in Schüsselchen. Das Fleisch war vorzüglich zubereitet.

'Geben Sie mir bitte etwas mehr!' bat ich, ganz und gar bereit, dafür zu zahlen; aber die Frau an der Ausgabe hielt plötzlich bestürzt inne, denn es ging nicht um das Geld. Sofort erschien neben ihr ein düsterer Bursche mit roter Armbinde. 'Für den Ausländer, ja!' Leg es drauf', ordnete er an. Man gab mir 150 Gramm fein gehacktes Hühnerfleisch und mir wurde klar, dass die Rotgardisten den Umfang der Portionen kontrollierten. Erst jetzt sah ich ein Plakat über der Ausgabe mit der Aufschrift: 'Den Worten des Vorsitzenden Mao gehorchen! Sparsam im Essen sein! Man darf sich nicht überessen!' In der Schlange hier im Stadtbezirk Hsitan waren nicht wenige Arbeiter. In den modernen Industrieunternehmen lag der Lohn höher und sie konnten sich natürlich ein Stückchen Hühnerfleisch erlauben. Die Gesichter der Menschen waren düster. Mit dem Essen in den Händen ging ich, um mir ein Bier zu holen. Das chinesische Bier ist sehr schmackhaft und stark, es erinnert an die besten deutschen Marken. Zu meinem Erstaunen stellte ich fest, dass man das Bier statt in Kannen in Gläser füllte. 'Geben Sie mir eine Kanne', bat ich. Neben dem Fass stand selbstverständlich ein Kontrolleur mit Armbinde. Nachdem er mich angeschaut hatte, war de Rotgardist einverstanden. 'Für den Ausländer, ja ...' Mir allein füllte man das Bier in eine Kanne. Die anderen erhielten ein Glas und keinen Tropfen mehr. Bis dahin aber hatte man in China stets aus Kannen getrunken. Meine Ansicht stand fest: Die Eindrücke, die ich von der neuen Etappe der 'Kulturrevolution' erhalten hatte, reichten völlig für einen Tag aus und ich setzte mich in den Autobus, der in Richtung des Bezirks meiner Hochschule fuhr. An einer der Haltestellen drang in den Bus eine Patrouille Rotgardisten ein. Es waren fünfzehn Mann. Sie rempelten sich grob durch und schauten unverfroren die Fahrgäste an. Sie hefteten sich an meinen Nachbarn. Dies war ein Mann im Alter von Vierzig, der bereits begann, kahl zu werden. Seine spärlichen Haare waren akkurat durch einen Scheitel geteilt, auf seinen Knien lag eine schäbige Aktentasche.

'Hierher!' gab der Junge, der als erster ging, den anderen ein Zeichen und im gleichen Moment formierte sich um uns ein enger Ring. 'In welcher Epoche lebst du, du Lump?' brüllte er den Fahrgast an und nachdem er sich mit seiner Hand in dessen Haar festgeklammert hatte, warf er ihm den Kopf zurück. 'Du hast vergessen, dass du unter Mao Tse-tung lebst! Du trägst einen bourgeoisen Scheitel und schleppst mit dir eine Aktentasche herum, du Blutsauger! Du bist verbürgerlicht, verfluchte Missgeburt! Du hast die Kulturrevolution vergessen!' Um einer größeren Überzeugungskraft willen stieß der Rotgardist den Fahrgast ein paarmal mit dem Kopf gegen den Metallrahmen des Fensters. 'Warum hast du bis jetzt das Haar noch nicht schneiden lassen?' - 'Ich hatte sehr viel zu tun...Die ganze Zeit über Versammlungen, ich habe es nicht geschafft ...', stammelte mit zitternden Lippen der vor Angst bleich gewordene Fahrgast. 'Wir warnen dich das letzte Mal! Sonst ergeht's dir schlecht!' drohte ihm der Leiter der Patrouille.

An der nächsten Haltestelle stiegen die Rotgardisten aus. Mein Nachbar brachte mit zitternder Hand seine zerzausten Haare wieder in Ordnung, indem er sich bemühte, den unglückseligen Scheitel zu glätten. Ich fuhr mit ihm bis zur Hochschule; möglicherweise arbeitete er hier.

 

 

Die Dekade der Hast

 

 

Die Tage vergingen. Die 'Kulturrevolution' verlagerte sich aus den Mauern der Hochschule in die Straßen der Stadt. Meine Rückkehr in die Heimat war schon nicht mehr allzu fern. Meine Pläne, die nötigen chinesischen Bücher zu erwerben, waren gefährdet. Die Buchhandlungen waren zum Hauptobjekt der Aktivität der Rotgardisten geworden.

Ich versuchte, nach Liulischang zu fahren, vielleicht glückte es mir dort. Liulitschang ist eine Ecke des alten Peking, die bereits fast drei Jahrhunderte lang ihrer Buchläden wegen berühmt ist. Bouquinisten und Antiquare und die berühmte Tschungpaotschai, die Werkstatt einzigartiger Reproduktionen der nationalen Malerei, die Kuohua, befinden sich dort.

Im Autobus lasen Schüler abwechselnd den Fahrgästen Zitate von Mao Tse-tung vor. Dann sangen sie und forderten die Fahrgäste auf mitzusingen und die müden Leute, die von der Arbeit kamen, sangen mit. Ein junger Arbeiter bewegte mehr zur Täuschung seine Lippen und presste die Worte heraus, die den 'Großen Steuermann' priesen.

'Genosse, warum singen Sie nicht?' fragte plötzlich die neben ihm sitzende Frau. 'Ich singe! Ich singe!' antwortete er eilig und begann, lauter zu singen. Plötzlich trat, nachdem sie die Reisenden brüsk auseinander geschoben hatte, ein Mädchen mit einem roten Büchlein in der Form eines Notizbuches zu mir heran. Als sie sich mir gegenüber aufgestellt hatte, begann sie mit tönender Stimme, Mao-Zitate zu lesen und warf von Zeit zu Zeit ihre Bicke auf mich; dann aber fuhr sie auswendig fort und starrte mich an. Es ist nicht schwer zu verstehen, welche Anstrengungen es mich kostete, äußerlich unbewegt zu bleiben.

Als ich in Liulitschang ausgestiegen war, begab ich mich als erstes in das Geschäft Tschungpaotschai. Ich hatte Glück, es war offen. Ich trat ein, aber was sah ich? Alles war verschwunden: die Buchzeichen, die von Meisterhand ausgemalten Miniaturen, die langen Rollbilder mit Vögeln, Blumen und Landschaften und sogar die Sujets aus dem neuen Leben nach der Befreiung - nichts davon war mehr davon da. Weder Brauchtum, noch Aufbau, noch Patriotismus, noch Tradition. Stattdessen überall die Lithographien eines die Augen zusammenkneifenden, lächelnden, schreibenden, rauchenden Mao Tse-tung. Er und die Sonne, er unter den Soldaten und überall er auf dem Gipfel. Viele Plakate mit Aussprüchen Mao Tse-tungs. Geblieben war in der Tat ein Ladentisch, wo man Tusche, Farben und Pinsel kaufen konnte. Augenscheinlich wurden sie zu den Gegenständen erster Erfordernis gerechnet, als Mittel für die Darstellung Mao Tse-tungs!

Betrübt ging ich weiter durch Liulitschang. Das Antiquariat - geschlossen. Das Geschäft für alte chinesische Bücher - geschlossen, der Juwelier ebenfalls. Noch und noch geschlossene Türen, die mit anprangernden Losungen überklebt sind. Dort die Kunsthandlung, in der ich mich so gern aufgehalten hatte! Ich gab mir Mühe, durch die Glastür ins Innere zu schauen: Hier hatte man bisher nichts zerstört. Die Skulpturen und Keramikfiguren waren auf den Borden, die Stiche aber standen auf einem Haufen, in die Ecke geworfen. Ich hatte nach jedem Stipendium welche gekauft. Ja, so sah Liulitschang aus, buchstäblich ein Orkan war über dieses Viertel hinweggegangen. Durch die schiefen Hutung, die Gässchen, wo es für den Fussgänger nicht leicht ist, mit einer Fahrradrikscha in Fahrt zu kommen, ging ich nach Tatschalar. Erneut Ladenreihen: Damenbekleidung, Schuhe, Artikel für Kinder, alte Apotheken, Optiker und was nicht alles! An dem Schaufenster eines Schuhgeschäftes hängt ein Ultimatum: 'Entfernt die bourgeoisen Modelle! Schafft die ideologisch verfaulten Produkte weg!' 'Revolutionäre Massen, weg mit den Lederschuhen! Wir wollen den Sitten der Ausbeuterklassen eine Absage erteilen!' Ich gehe ins Kaufhaus. Auf den Ladentischen liegen 'Schutz'-Erklärungen: 'Die ideologisch verfaulte Ware ist vom Verkauf zurückgezogen'; unter dem Glas der Ausstellungskästen der Aufruf: 'Genossen revolutionäre Käufer! Wenn sie schlechte, ideologisch nicht vertretbare Waren in unserem Kaufhaus entdecken, bitten wir um Ihre geschätzte Meinung.'

Durch die Masse läuft eine Bewegung. Ich drehe mich hinter allen unwillkürlich um. Rotgardisten führen einen jungen Menschen durch das Kaufhaus. Die Hände sind ihm nach hinten hochgebogen, so dass die Ellenbogen gegen den Rücken stoßen. Der Kopf aber ist nach unten gedrückt. Im Halbtrab führen ihn drei, dahinter folgende noch einige junge Leute mit roten Armbinden.

'Düsenjäger...', höre ich flüstern. Bei der schnellen Bewegung erinnert der gekrümmte menschliche Körper tatsächlich an die Konturen eines Düsenjägers. Sie laufen schnell, so wie sie auch aufgetaucht sind. Die Masse der Käufer rückt zusammen, als ob sich nichts ereignet hätte. Schnell überzeuge ich mich davon, dass ich meiner Frau als Geschenk kein chinesisches Teeservice mitbringen kann. Die mehr oder weniger schönen und einheimischen hat man aus dem Verkauf herausgenommen. Ich hatte ungefähr hundert Yüan, die ich für Bücher ausgeben wollte, aber Bücher gab es nicht mehr, das hatte ich bereits festgestellt; das hieß, man musste das Geld im Kaufhaus für Ausländer, in der Nähe der Wangfutsching, schnell für irgend etwas anderes ausgeben.

Bis zum Zentrum gelangte ich mit Mühe in einen überfüllten Bus. Die Einkaufsstraße Wangfutsching hatte schwer unter der 'Kulturrevolution' gelitten: Aushängeschilder waren zerrissen, Schaufenster zerschlagen und überklebt. Die stürmische Aktivität rotgardistischer Posten hatte nicht nur die Verkäufer, sondern auch die Käufer terrorisiert. Von ihnen war jetzt fast nichts mehr zu sehen. Im Kaufhaus für Ausländer aber waren noch einige Waren und das Wichtigste: dort herrschte Ruhe.

Ich bog um die Ecke in die Wangfutsching ein und hatte gerade kaum ein Dutzend Schritte zurückgelegt, als mir von einem der Eingänge her jemand kopfüber die Stufen hinunter entgegenflog und sich der Länge nach auf dem Bürgerteig vor meinen Füßen ausstreckte. Dem Aussehen nach konnte er fünfzig sein. Das geschwollene Gesicht war blutunterlaufen, die Kleidung zerrissen und beschmutzt, auf dem Körper sah man durch die Löcher in der Kleidung hindurch blaue Flecken. Hinter ihm her liefen vier Rotgardisten, seine Verfolger. Nachdem sie ihn noch mit Fusstritten bedacht hatten, stellten sie ihr Opfer auf die Füße und mit verdrehten Armen schleppten sie ihn durch die Straße, ihn fortgesetzt mit Händen und Füßen schlagend. Drumherum, in einem ununterbrochenen Strom, bewegten sich die Vorübergehenden. Keiner von ihnen schenkte dieser Szene auch nur Beachtung. Nur ich allein stand mitten auf dem Bürgersteig, erschüttert und verwirrt. Wo war sie, die Masse der Neugierigen, die sich stets augenblicklich auf der Straße einer chinesischen Stadt bildete?

Ungefähr eine Stunde lang versuchte ich in sengender Sonne hoffnungslos, in einen Autobus oder Trolleybus zu gelangen; es stand eine riesige Schlange da. Am Ende war ich verzweifelt. Da hörte ich plötzlich, wie mich eine unbekannte Stimme rief. Ich drehte mich um. Vor mir stand ein Student mit der Armbinde eines Rotgardisten. 'Ausländischer Genosse', wiederholte er, 'guten Tag! Sie sind doch von der Pädagogischen Hochschule? Und kehren nach Hause zurück?' Ich bejahte. 'Nehmen Sie bei uns im Bus Platz! Wir fahren auch zur Hochschule zurück.' Er wies auf einen Bus, der wegen des Verkehrsstaus auf der Kreuzung hier in der Schlange stand. Er war mit Portraits und Aussprüchen von Maos geschmückt und trug in Kreide die Aufschrift 'Sonderwagen'. Der Bus war vollgestopft mit Rotgardisten. Ich stieg ein. Sogleich räumte man mir einen Platz ein, obwohl ich das aus Höflichkeit zurückwies, aber die Rotgardisten hatten bereits ihre Gewohnheiten. Mit gewandten Bewegungen warfen sie mich auf einen Sitz. Das waren erfahrene Gewaltmenschen! 'Wo sind Sie gewesen?' fragte ich meinen Nachbarn, nachdem ich etwas verschnauft hatte. 'Auf revolutionärer Operation. Jeden Tag fahren wir reihum in die Wangfutsching, um die revolutionäre Ordnung herzustellen. Heute war unsere Gruppe dort.' - 'Und wem gehört dieser Autobus?' - 'Wir haben ihn von einer der Institutionen konfisziert, für die Erfordernisse der Revolution', antwortete der Rotgardist. 'Aber Sie wissen, dass eure Gesetze es den Chinesen verbieten, sich mit Ausländern zu unterhalten?' - 'So mag es vielleicht bis zur Kulturrevolution gewesen sein. Für uns Rotgardisten hat das keinerlei Bedeutung. Und dann ist es auch notwendig, die Kulturrevolution zu propagieren!'

Er erzählte, dass sie von früh an durch die zentralen Behörden der Stadt gefahren seien und bei den Bewohnern 'überflüssige' Möbel, Luxusgegenstände und Wertsachen konfisziert hätten. 'Was macht ihr mit all dem, vernichtet ihr es?' - 'Nein. Wir bringen das in die Kommissionsläden und verkaufen die Möbel, die Wertsachen aber übergeben wir direkt dem Staat...' Als wir durch Hsintsiekou, eine belebte Einkaufsstadt, fuhren, verminderte der Bus die Geschwindigkeit. Hier waren nicht nur die Bürgersteige, sondern auch der Fahrdamm mit beschlagnahmten Möbeln, mit Betten, Schränken, Liegen, Koffern vollgestellt. ...Eine unvorstellbare Anhäufung von altem Kram. Ein kleines Möbelgeschäft, zu dem die Rotgardisten die konfiszierten Sachen brachten, hatte damit die ganze Straße vollgestellt. Erstaunlich war, dass es aber Leute gab, die die Möbel kauften, die gerade anderen weggenommen worden waren.

'Bei uns herrscht die große Epoche Mao Tse-tungs und wir alle machen Revolution', erklärte mir mein Rotgardisten-Nachbar liebenswürdig. 'Wir machen jetzt mit all dem Gesindel nicht viel Federlesens.' - 'Unsere Hauptfeinde, das sind die Entarteten innerhalb der Kommunistischen Partei', fügte ein neben ihm stehendes Mädchen hinzu. 'Sie haben vergessen, dass wir alle unserer Sonne, dem Vorsitzenden Mao, verpflichtet sind. Wir konfiszieren bei ihnen die Luxusgegenstände und helfen ihnen, ihr Bewusstsein zu reinigen.' - 'Aber wer kauft denn diese Sachen?' konnte ich nicht an mich halten. 'Revolutionäre Genossen', erklärte mein Nachbar, ohne nachzudenken. 'Sachen sind nicht wichtig, wichtig ist das Bewusstsein, sind die Ideen', fügte das Mädchen hinzu. 'Wenn ein Mensch den Gedanken Mao Tse-tungs folgt, sie aufrichtig in sich aufnimmt, ihnen seine ganze Seele öffnet, dann sind für ihn die Dinge nicht furchtbar, dann ist er Herr über die Dinge. Aber die Missgeburten in der Partei stehen den Gedanken unseres Vorsitzenden fremd gegenüber!' - 'Wie finden Sie denn die Feinde des Vorsitzenden heraus?' fragte ich. 'Und warum sind Sie überzeugt, dass sich niemand entzieht?' - 'Wir sind viele. Voran gehen die Schüler, die kleinen Anführer der Revolution. Sie wissen alles, was sich in ihrem Wohnviertel tut und sagen es uns. Deshalb gehen wir immer ganz sicher.'

 

 

Das Blutbad

 

 

Am Abend ertönte vom Stadion der Hochschule her erneut ohrenbetäubendes Gebrüll. Eine Versammlung von Rotgardisten, die aus der Stadt zurückgekehrt war, war der 'Bilanz der Ergebnisse des Tages und dem Austausch revolutionärer Erfahrungen' gewidmet. Dort hatten sich einige Tausend versammelt. Als ich nach dem Abendessen aus meiner Mensa hinaustrat, war es ringsum leer. Neben dem Eingang zum Wohngebäude für Dozenten mit Familien riefen mich zwei dort stehende Frauen an. Ich trat zu ihnen. 'Schauen Sie, was bei uns vor sich geht! Vor zwei Stunden sind sie weggegangen. Kommen Sie, sehen Sie sich das an!'

- 'Wer ist das 'sie'?' - 'Die Rotarmisten!'

Sie führten mich über eine aus 'Sparsamkeit' unbeleuchetete Treppe. Das Haus war aus Ziegeln, vierstöckig, für Pekinger Verhältnisse elegant. Es gab darin nicht nur Gas; man musste das Essen auch auf Herden, die mit Kohlbriketts beheizt wurden, zubereiten. 'Wer lebt hier?' fragte ich vor der Tür der Wohnung, in die einzutreten man mich einlud. 'Der Wohnungsinhaber war Mitglied des Parteibüros der Fakultät. Man hat ihn schon längst geholt.' Dies war eine bescheidene Zweizimmerwohnung. Alles darin war von unten nach oben gekehrt, die Betten umgestürzt, die Truhe, der Schrank; Wäsche und Kleidung lagen unordentlich mitten in dem einen Zimmer umher; auf dem Zementfußboden des anderen rauchte ein Haufen Asche.

Die Frauen erzählten, wie sich alles zugetragen hatte. Die Rotgardisten waren gegen Mittag zu ihnen ins Haus gekommen. Es waren 12 Mann. Mit ihnen zusammen waren zwei 'revolutionäre' Dozenten; sie nahmen als Zeugen teil. Unter den Rotgardisten war keiner, der an eben dieser Fakultät, an der der Wohnungsinhaber lehrte, studiert hätte. Sie begannen mit der Konfiszierung der Möbel. Sie weiteten sie aus, schleppten sie in den Hof und fuhren sie auf einem Lastwagen weg. Dann beschäftigten sie sich mit der 'gedanklichen Umerziehung'.

'Wo sind die Portraits des Vorsitzenden Mao? Warum sind hier keine Portraits von ihm?' fielen die Rotgardisten über den Halbwüchsigen, einen Sohn des Hausherrn, seine Schwester und deren Mutter her und schlugen allen ins Gesicht. Die Rotgardisten rissen die Bilder von den Wänden, Reproduktionen, Fotografien, zerrissen sie und traten mit den Füßen darauf. Trümmer von Rahmen, in Fetzen gerissene Bilder lagen auf dem Boden umher.

'Und wo haben Sie die Werke Mao Tse-tungs?' schrien sie. Glücklicherweise fand sich ein kleiner Band ausgewählter Werke. Diesen legten sie beiseite, die restlichen Bücher aber erklärten sie für 'schlecht'. Die Wohungsinhaber zwangen sie, die häusliche Bibliothek auf dem Fußboden aufzuschichten und sie zu verbrennen. Die Asche von den Büchern hatte ich auf dem Zementboden im zweiten Zimmer gesehen. Die Rotgardisten räumten mit dem Geschirr und der Kleidung auf. Sie zerschlugen Schalen und Teller. 'Eine Schale mit Drachenmuster ist eine feudalistische Schale!' Bums auf den Boden! 'Eine Schale mit Blümchen und Röschen ist eine bourgeoise, kleinbürgerliche Schale!' Bums, auf den Boden. 'Wo steht die Büste Mao Tse-tungs?' fragten die Rotgardisten und traten mit den Füßen auf Porzellan, Statuetten des Fischers, des Bauernmädchens und der Dichter herum, die auf dem Bord des Professors gestanden hatten. Das Aquarium mit den Goldfischen warfen sie aus dem Fenster: ein Überbleibsel des Feudalismus. Die Mädchen rissen Jacketts und Hosen europäischen Schnitts und dann die Röcke der Hausfrau in Stücke. 'Ausländische Sklaven! Verräter!' schrien sie. Die Burschen gingen währenddessen auf den Balkon und zerschlugen die Töpfe mit den Kakteen: 'Nutzloser Luxus!' Auf dem Balkon entdeckten sie die Katze, die sich in einen Winkel verkrochen hatte: 'Schaut mal auf diese Bourgeois!' schrie einer der Rotgardisten, nahm die Katze beim Schwanz und zerschlug ihr den Kopf an der Wand. Er wollte sie auf den Hof hinauswerfen, aber die Mädchen protestierten: 'Leg ihnen doch das Aas in die Abstellkammer und schließ ab! Soll doch das bourgeoise Gesindel den Gestank davon haben.' Die ganze Familie flehte um Gnade, aber die Rotgardisten waren unerbittlich und hängten ein Schloss vor die Abstellkammer, so dass die Wirtsleute sich nicht von dem Leichengestank befreien konnten. Da mischten sich die als Zeugen anwesenden Dozenten ein: 'Das ist nicht nötig', begannen sie zuzureden. 'Wir nehmen ihnen das zweite Zimmer weg und lassen ein revolutionäre Familie von den Aktivisten hineinziehen. Wenn der Kadaver in der Wohnung bleibt, wird es auch für die neuen Bewohner stinken.' Dieses Argument wirkte. Sie warfen die Katze aus dem Fenster. 'Haben sie Ihnen irgend etwas geraubt?' fragte ich die Wohnungsinhaberin. 'Ja, ein paar Kleinigkeiten: den Füller meines Mannes, seine und meine Armbanduhren, die Brille, Notizblöcke, Papier und Notizbücher, die Tagebücher ...Das ist alles halb so schlimm, aber sie haben alle Manuskripte meines Mannes und alle Briefe konfisziert und mitgenommen. Sie sagten, man werde sich mit der Untersuchung unserer Verbrechen beschäftigen...' Auf dem Fußboden bemerkte ich zerschlagene Schallplatten. 'Wir lieben russische Lieder', sagte traurig die Frau. 'Diese Schallplatten hatte wir schon lange. Sie zerschlugen sie auf dem Kopf meines Sohnes. Sie wurden sehr wütend, als sie bei uns sowjetische Platten fanden. Sie suchten sowjetische Zeitungen und Zeitschriften, aber wir hatten keine. Schon 1961 hat sie mein Mann persönlich verbrannt.'

Sie erzählte, wie die Rotgardisten, nachdem sie mit den Sachen aufgeräumt hatten, sich an die Leute machten. Zuerst forderten sie, sie sollten sich von dem festgenommenen Haupt der Familie lossagen. Aber sie und ihr Sohn weigerten sich, diese Verleumdung zu schreiben. Sie wiesen es auch zurück, seine 'verfaulten Ideen' zu verurteilen und lehnten es ab, den Rotgardisten ihre 'Dankbarkeit für die Befreiung von den Fesseln des alten Brauchtums und für den Übergang zu einem neuen Leben' schriftlich zu geben. Ungefähr eine Stunde verwendeten die Rotgardisten auf die Überredung. Dann stellten sie sich alle mit dem Rücken zur Wand und fragten: 'Kämpfen wir gut gegen die alten Sitten? Verbreiten wir die Gedanken Mao Tse-tungs gut?' Als sie keine Antworten erhielten, begannen sie erneut, sie ins Gesicht zu schlagen mit der Absicht, sie dann mit dem Nacken gegen die Wand zu stoßen. 'Wir haben es lange ertragen und dachten, dass sie zur Versammlung weggehen würden', sagte mir der Junge. 'Aber dann, nachdem sie sich beraten hatten, beschlossen sie, fünf Leute hier zu lassen, um mit uns zu 'kämpfen'. Wir hielten nicht durch und kapitulierten. ...Ich sagte ihnen: 'Ihr verbreitet die Gedanken Mao Tse-tungs gut. Ihr kämpft gut gegen die Bourgeoisie.' Dann hörten sie auf, uns zu schlagen und gingen zur Versammlung. Sie drohten wiederzukommen, sagten aber nicht wann. Darum räumten wir nichts weg. Soll alles herumliegen!' - 'Aber warum haben Sie sich dazu entschlossen, nach all dem mich zu rufen?' fragte ich verwundert. 'Ach, uns ist jetzt alles gleich', sagte die Frau voller Verzweiflung. 'Wir wollten einfach, dass Sie wissen, was bei uns vor sich geht.'

Mit tiefer Teilnahme verabschiedete ich mich von diesen unglücklichen Menschen, die noch so viele Prüfungen und unverdiente Beleidigungen erwarteten. Ich ging zurück ins Wohnheim durch völlig leere Alleen. Überallhin brüllten die Lautsprecher, die die Versammlung der Rotgardisten im Stadion übertrugen. Die heiseren Schreie der Redner mischten sich mit dem Heulen und dem Gebrüll der Zusammenkunft. Die Rotgardisten erörterten die Ergebnisse des laufenden 'Kampftages'. Siegesrapporte wechselten sich ab mit kritischen Auftritten, innere Unruhe, Neid und Karrierismus erhitzten die Atmosphäre. Die Abteilung 'Maotsetungismus' schmähte das Komitee für die Kulturrevolution bei jeder Gelegenheit. Jetzt kam die Rede auf die Verdienste der Schüler in der Massenbewegung.

'Wir müssen an der Spitze der Kampfabteilungen der kleinen Anführer der Revolution stehen!' schrien die Lautsprecher. 'Wir, die Rotgardisten, sind die Hauptkraft der Kulturrevolution, die Träger und Propagandisten des Vorsitzenden Mao. Die Besten der Besten müssen die Abteilungen der Schüler leiten. Wir führen sie zu den revolutionären Operationen!' Donnernder Beifall; der Redner wechselt. Eine klare, tüchtige Stimme beginnt eine kritische Rede.

'Die Genossen arbeiten ununterbrochen, aber die Ergebnisse sind trotzdem gering. Woran liegt das? Was steht uns im Wege? Ich sage es unumwunden: Sabotage der revolutionären Sache! Bei uns haben die Konservativen erneut das Haupt erhoben. Genossen, die Führung der Universität treibt Sabotage, das Komitee für die Kulturrevolution treibt Sabotage. Sie sind vollgestopft mit vierzigjährigen Monarchisten!...'

Ein wildes Gebrüll erhob sich. Die einen brüllten dafür, die anderen dagegen. Nach der erzwungenen Pause führ der Redner fort: 'Ich beweise es allen! Was sagen die heutigen Monarchisten? Das hier sagen sie: Revolutionäre Organisationen sind eine militärische Angelegenheit, sie müssen von kenntnisreichen Leuten angeführt werden; und sie ernennen für die Spitze der Gruppen Kommandeure der Volksmiliz. Und was wissen diese dreckigen Kommandeure?' Erneut Gebrüll ...

'An der Spitze müssen Leute mit revolutionärer Erfahrung stehen!' übernahm sich der Redner. 'Wenn ein Mensch gegenüber den Feinden des Vorsitzenden Mao erbarmungslos ist, wenn er Verdienste um die Kulturrevolution hat, kann er auch mit zehn Jahren kommandieren und nicht der, der zwanzig ist!' Aus dem Lautsprecher ertönten Gebrüll, Schreie und Stöhnen. Ich erkannte, dass im Präsidium der Versammlung ein Streit mit Handgemenge begonnen hatte. Die elektrisierte Menge brüllte wie ein wildes Tier. 'Genossen Rotgardisten!' kreischte durchdringend jemand im Falsett ins Mikrophon. 'Weg mit den Autoritäten! Es lebe die allerallerrevolutionärste rote Autorität, der heißgeliebte Vorsitzende Mao!' Mein Kopf brummte wie ein Kessel. Vor meinen Augen zuckten die verzerrten, gequälten Gesichter. Mich würgte der Ekel. Entkräftet warf ich mich aufs Bett und schaltete das Transistorradio ein. Moskau übertrug die Reportage eines Fußballspiels. Die fröhliche, leidenschaftliche Stimme des Kommentators verlieh mir mit einem Mal Zuversicht für den morgigen Tag. Die Heimat lebte ruhig; ihre Ruhe teilte sich auch mir mit.