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Dr. med. Günther Lange: 11. Dezember – „Tag des Gesundheitswesens“ in der DDR

Quelle: offen-siv

Im Beschluss des Politbüros des ZK der SED vom 16. Dezember 1960 heißt es u.a.: „... 5. Zur Anerkennung hervorragender Leistungen der Mitarbeiter des Gesundheitswesens hält es das Politbüro für notwendig: a) jährlich den 11. Dezember, den Geburtstag Robert Kochs, als „Tag des Gesundheitswesens“ zu begehen; ...“ [23]

Heute wissen viele junge Menschen aus den neuen Bundesländern nicht, was ihnen durch die „Wende“ an garantiertem Gesundheitsschutz und sozialer Sicherheit verlorengegangen ist. Manche Ältere verschweigen es aus Scham ob ihrer Angepasstheit und ihres Kriechertums. Viele aber erinnern sich angesichts des verschleierten, sich schnell beschleunigenden Sozialabbaus und der sich herausbildenden Zweiklassenmedizin. „Die Wut wächst“ [24] – Erst recht in der ehemaligen DDR!

Noch kein früheres Staatsgebilde der deutschen Geschichte hatte eine solche Wandlung in Bezug auf humanistische Zielstellungen, Strukturen, Systemlösungen und Beziehungen der Menschen zueinander und zu anderen Staaten versucht wie diese DDR. Auch sind wohl noch nie in so kurzem Zeitraum derart einschneidende Umbrüche alter Vorstellungen und Lebensweisen erfolgt wie in den 40 Jahren der DDR.

Manche „wahrheitssuchenden“ Historiker versuchen die Aufarbeitung der Geschichte der DDR mit Verlogenheiten und Halbwahrheiten, verschweigen aber tunlichst, was nach der Wende in den neuen Bundesländern, auch im GSW, bittere Realität wurde: Vernichtete Existenzen, tausendfache Entlassungen, „Abwicklung“ ganzer wissenschaftlichen Institutionen, die ersatzlose Streichung von sehr stark praxisorientierten Forschungsprojekten, von ideenreichen Neuerungen, die Auflösung funktionierender Strukturen verzerren heute die Erinnerung an das Originalbild der DDR und vermitteln dem unwissenden Nachkommen, ebenso wie der heutigen manipulierten Umwelt, die die DDR nicht aus eigenem Erleben kennen gelernt hat, falsche Vorstellungen, die ihren Höhepunkt in der Charakterisierung der DDR als „Unrechtssaat“ finden.

Es ist sicherlich nachdenkenswert, dass in den Erinnerungen der früheren DDR-Bürger das Gesundheits- und Sozialwesen der DDR, einige Facetten des Bildungswesens, die Landwirtschaft, die allgemeine systematische Sportförderung u.a. mehr immer wieder als besonders positiv auftauchen. Selbst notorisch DDR-unfreundlichen Lesern sei hier zur Nachhilfe und Annäherung an das Thema empfohlen: Bollinger/Vilmar: „Die DDR war anders“. Eine kritische Würdigung ihrer sozialkulturellen Einrichtungen. Verlag Das Neue Berlin, edition ost 2002.

Ich möchte beispielhaft und ohne Anspruch auf Vollständigkeit einige Stärken der DDR-Gesundheitswesens benennen:

1. Es gelang, vorher bestehende soziale Schranken für die Inanspruchnahme medizinischer Leistungen und Hilfen zu beseitigen und allen Menschen eine unentgeltliche und gleichermaßen zugängliche gesundheitliche Versorgung zu ermöglichen. Grundlage dafür war ein durchgehend und konsequent verwirklichtes Solidarprinzip auf der Basis eines einheitlichen sozialen Versicherungssystems sowie von Zuschüssen aus dem Staatshaushalt.

2. Die medizinisch-fachliche und berufsethische Grundsituation des Arztes. Im unmittelbaren Arzt-Patient-Verhältnis konnte er sich frei von jeglichen kommerziellen Erwägungen und ohne Rücksichten auf die eigene ökonomische Existenz den individuellen gesundheitlichen Problemen seiner Patienten widmen. Es gab keine strukturell eingebaute Steuerung des medizinischen Denkens und Handeln über das Geld. Diese fundamentalen Vorzüge waren Ärzten offensichtlich so selbstverständlich geworden, dass ihr Verlust von vielen erst im Nachhinein empfunden wurde, wie ich in vielen Kollegengesprächen immer wieder hören konnte. „In der Sprechstunde drehen sich heute 50% meiner Überlegungen nicht um den Patienten, sondern in irgendeiner Weise um Geld – früher undenkbar!“, so kürzlich ein mir bekannter Augenarzt zu mir.

3. Die Spezialisierung der Medizin schreitet schnell voran, was im gleichen Maße und Tempo Integration erfordert. Kooperation und Zusammenarbeit der zunehmenden Zahl ärztlicher Spezialisten, aller anderen Ärzten und Gesundheitsberufe müssen gestaltet und organisiert werden. Die praktische Umsetzung dieser elementaren Notwendigkeit war im DDR-Gesundheitswesen in vielen Jahren immer bewusst betrieben worden und weitestgehend nahezu flächendeckend gelungen. Hier sei nur an die poliklinische Idee und die damit verbundene Kooperation ambulant tätiger Ärzte untereinander und mit den stationären Einrichtungen erinnert, die vielerorts unter einem Dach zusammengeführt waren. Aber diese großartige Errungenschaft wurde nach der „Wende“ zerschlagen. Heute mit dieser Tendenz zunehmend geäußerte Gedanken werden als „strukturelle Neuerungen“ ausgegeben!?

4. Zu den herausragenden Merkmalen des DDR-Gesundheitswesens zählt zweifellos auch der von vornherein hohe Stellenwert prophylaktischen Handelns. Die dafür geschaffenen gesetzlichen Grundlagen und praktischen Arbeitsformen enthielten auch auf längere Sicht eine Vielzahl vorbildlicher Regelungen. So seien genannt:

-         -der Gesundheitsschutz für Mutter und Kind,

-         -die prophylaktische zahnärztliche Betreuung der Kinder und Jugendlichen,

-         -die arbeitsmedizinische Versorgung durch ein leistungsfähiges Betriebs-.Gesundheitswesen, das von den Betriebsleitungen völlig unabhängig war,

-         -die Dispensairebetreuung von Patienten mit bestimmten Krankheiten sowie

-         -der Infektionsschutz u.a.

und die dies tragenden Einrichtungen.

Mit deutlich geringeren Mitteln als z.B. die BRD konnte die DDR – trotz auch hier seit etwa Ende der 70er Jahre sektorenweise stagnierender Tendenzen – Gesundheitsparameter erreichen, die sich in der Spannbreite der entwickelten westlichen Industrieländer bewegten, punktuell diese sogar überschritten. Das spricht eher für vergleichsweise hohe medizinische, soziale und ökonomische Effizienz eines Gesundheitswesens. In ihrer letzen Sitzung kam eine Kommission des DDR-Gesundheitsministeriums im Sommer 1990 in Konsultation mit den bekannten westdeutschen Professoren Obladen und Versmold (die eine Teil der „Abwicklung“ mit vorzubereiten hatten) zu dem Ergebnis: „Die Vermutung liegt nahe, dass in der ehemaligen DDR Faktoren wirksam wurden, die in der Lage waren, die ... Mängel im Gesundheitswesen allgemein ... auszugleichen ...“ (Monatsschrift Kinderheilkunde, Springer Verlag Berlin-Heidelberg-New York 1991, S. 139, 303, 306). Welch wundersame Faktoren werden das wohl gewesen sein?

Sehen wir uns einige wenige sozialpolitische Details an: „Das Gesetz über die Unterbrechung der Schwangerschaft“ vom März 1972 bedeutete die Befreiung der Frauen vom Gebärzwang und eröffnete ihnen das Selbstbestimmungsrecht, über Zeitpunkt, Anzahl und zeitliche Aufeinanderfolge von Geburten frei zu entscheiden. Gleichzeitig wurde durch dieses Gesetz die kostenfreie Abgabe ärztlich verordneter Verhütungsmittel geregelt und damit der Prävention das Primat eingeräumt. Die politisch klare und von großer menschlicher Wäre getragenen Begründung durch den Minister für Gesundheitswesen der DDR, unseren unvergessenen Genossen Prof. Dr. Mecklinger, vor der Volkskammer, war eine Sternstunde für uralte Forderungen der Kommunisten nach Freiheit und Gleichberechtigung der Frauen. Aus medizinischer Sicht zeigten sich schon sehr bald Auswirkungen dieses Gesetzes in der deutlichen Senkung der Müttersterblichkeit, der Suizide bei Schwangeren und Wöchnerinnen und der Anzahl klinischer Erkrankungen infolge von Aborten. Die direkten demographischen Folgen der Fristenlösung waren in relativ kurzer Zeit überwunden. Der nach Einführung von Fristenlösungen international bekannte Anstieg legaler Schwangerschaftsabbrüche auf das Fünffache war bereits nach 2 Jahren beendet und ab 1975 stiegen die Geburten wieder an! Folgende konkrete Daten sind sehr aufschlussreich:

Tab. I) Fruchtbarkeitsziffer – Vergleich BRD/DDR 1970-1990

(Lebendgeborene je 1000 Frauen im Alter von 15 – 45 Jahren)

                      BRD                                        DDR

1970             67,2                                         70,1

1975             47,6                                         52,3

1980             46,7                                         67,4

1985               ?                                             63,8

1990             53,9                                         58,2

Hier erkennt man eine der Ursachen für die heute so beklagte „demographische Lücke“. Der Maximalprofit war mit dem Import billigerer ausländischer Arbeitskräfte viel kostengünstiger zu realisieren als mit der Auflage eines teuren kinder- und familienfreundlichen sozialpolitischen Programms!

Der Fristenlösung der DDR folgte 1974 die Fristenlösung der BRD. Aber „umso größer war die Fassungslosigkeit, als die von Millionen Frauen in einem harten aber demokratischen Kampf den Politikern abgerungene Fristenlösung wenig später durch sechs alte Männer des Bundesgerichtshofes mit einem Federstrich zunichte gemacht werden konnte. „ (Zitat Zeitschrift „Emma“).

Bekanntlich wurde das seit 1975 gültige einschlägige Gesetz ungeachtet der Folgen auf gleiche Weise verschärft.

Nach dem Beitritt der DDR zur BRD wurde den Frauen der Ex-DDR die frauenfeindliche, diskriminierende Gesetzgebung der BRD mit den Paragraphen 218 und 219 des StGB übergestülpt. Die Rücknahme der einstigen kostenlosen Abgabe von Verhütungsmitteln an Frauen, Existenzunsicherheiten und hohe Kosten für die Kinderbetreuung – das alles sind Ursachen für den Geburtenrückgang auf ein Drittel (!) der Geburtenhäufigkeit auf dem Gebiet der ehemaligen DDR im Vergleich zu den Jahren vor 1990:

Tab.II) Lebendgeborene in den neuen Bundesländern und Ostberlin:

                   1980          -           245 132

                   1985          -           227 648

                   1989          -           198 922

                   1991          -           107 800

                   1992          -             88 300

Tab. III) Fruchtbarkeitsziffer Berlin-Ost und Berlin-West

                   1988                         61,4                   47,8

                   1993                         25,7                   44,8

Dies alles u.v.a. sind sehr konkrete und ebenso sensible Indikatoren, sprechen sie etwa für die großmäulig und demagogisch versprochenen „blühenden Landschaften“, denen viele auf den Leim gekrochen sind?

Viele sozialpolitische Maßnahmen der ehemaligen DDR wären es wert, wieder in Erinnerung gerufen zu werden. Sie sind teilweise in Vergessenheit geraten und klingen gelegentlich fast unglaubwürdig. Dazu möchte ich z.B. die Möglichkeit für berufstätige Großmütter nennen, in Vertretung ihrer Töchter oder Schwiegertöchter das bezahlte Babyjahr in Anspruch zu nehmen (bei Garantie des eigenen Arbeitsplatzes!), damit die Mutter des Kindes ihre Ausbildung oder ihr Studium ungehindert fortsetzen konnte. Das heute in dieser BRD zur Übernahme in die einschlägigen gesetzlichen Regelungen zu empfehlen, würde wohl nur Heiterkeit auslösen. Ernsthafter wäre schon an solche Bedingungen wie die kostenlose Abgabe Antikonzeptiva an alle Frauen, die vollständige Kostenübernahme des Schwangerschaftsabbruches und aller damit im Zusammenhang notwendigen medizinischen Maßnahmen sowie die selbstverständliche Arbeitsbefreiung mit Lohnfortzahlung u.v.a. DDR-Errungenschaften zu denken.

Wir Kommunisten müssen entschlossen den Verlogenheiten und Halbwahrheiten vieler angepasster „DDR-Geschichtsaufarbeiter“ mit der Wahrheit entgegentreten, dabei die konkret historischen Bedingungen nicht vergessend!

Wilhelm von Humboldt sagte einmal: „Nur wer sozial sicher ist, kann auch frei sein.“ Die Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern aber ist fast doppelt so hoch wie in den alten und wächst – und wächst. Die antisoziale Barbarei wächst auch. Wir Kommunisten tragen eine unglaublich schwere Verantwortung allen arbeitslosen und abhängig arbeitenden Menschen gegenüber, tun wir alles, um ihr gerecht zu werden!

                                                                                                         Dr. med. Günther Lange, Neuenhagen

[23]   Dokumente der SED Bd. VIII, Dietz Verlag Berlin 1962, S. 303.

[24]   Oskar Lafontain: „Die Wut wächst“ Econ Verlag München 2002. Eine große Fülle von Daten, Fakten und Dokumenten zur Geschichte des Gesundheitswesens der DDR ist den Veröffentlichungen der „Interessengemeinschaft Medizin und Gesellschaft“ e.V. Eigenverlag Berlin (JSSN 1430-6964), Tel. 030-2411797   zu entnehmen.